Zusammenhalt und Ressentiment in Krisenzeiten: Erinnerungen an die Wende- und Nachwende-Zeit im Ost-West-Vergleich
BER_F_01 – Projekt des FGZ Berlin
Zielsetzung / Fragestellung
Biographische Erzählungen über die Wende- und Nachwendezeit stehen in einem Spannungsfeld zwischen Erfahrungen von Selbstermächtigung und erfolgreichem Kampf um die Gestaltung der Gesellschaft, Erlebnissen von Entsolidarisierung und Hilflosigkeit gegenüber oft selbstgewählten Mächten sowie enthemmtem Nationalismus und Rassismus.
Das Forschungsprojekt baut in Verbindung mit dem Transferprojekt BER_T_01 auf erhobenen Umbruchserinnerungen auf. Sie sollen auf Zusammenhaltsvorstellungen sowie auf die Beziehung zwischen Krisenerfahrung und Entstehung von Ressentiments hin untersucht werden: Welche Narrative von Zusammenhalt oder dessen Erosion bestimmen die Erinnerung an Wende- und Nachwendezeit? Welche Formen der In- und Exklusionen zeichnen sich in diesen Narrativen ab? Die Anlage als Ost-West-Vergleich soll dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Perspektiven sichtbar machen.
Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts liegt auf der konkreten Untersuchung eines Fallbeispiels. Ausgehend von den Auseinandersetzungen um die Privatisierung und Schließung des Kaliwerks Bischofferode 1993 werden beispielhaft die Dynamiken der Wende- und Postwendezeit rekonstruiert und die Frage nach deren Langzeitwirkungen aufgeworfen: Welchen Bezug zur Gegenwart stellen die Erinnernden her, wenn sie heute über die Umbrüche und (Arbeits-)Kämpfe der Wende- und Postwendezeit sprechen? Wie verorten sich die Akteur*innen von damals im heutigen Deutschland beziehungsweise in der globalisierten Welt?
Thematischer Bezug zu gesellschaftlichem Zusammenhalt
In der DDR war die Wendezeit zwischen Mauerfall 1989 und Volkskammerwahl 1990 bei vielen mit der Euphorie verbunden, Gesellschaft endlich selbst gestalten zu können – in der Hoffnung auf einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und real existierendem Sozialismus. Die Nachwendezeit dagegen wurde vielfach als krisenhafter Umbruch empfunden, in dem politischer und sozialer Orientierungsverlust, Arbeitslosigkeit, das Gefühl des Überflüssig-Seins, erstarkender Nationalismus und Rassismus kopräsent waren. Daraus erwuchsen verschiedene und teils konträre Vorstellungen von Zusammenhalt. Weitgehende Einigkeit herrscht(e) lediglich in Bezug auf ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Institutionen, das sich in erster Linie der Staatssicherheit sowie der Treuhand verdankte. Das Projekt analysiert anhand der verflochtenen Kategorien Partizipation und Zugehörigkeit, Identität, Arbeit, Inklusion und Exklusion den Widerspruch zwischen dem demokratischen Selbstbewusstsein der Wendezeit und der heute im Osten diagnostizierten Demokratiedistanz.
Auch im Westteil der neuen Republik stellte sich die Frage nach Zusammenhalt nach 1990 neu – angesichts der unerwarteten und gar nicht von allen gewünschten oder begrüßten nationalen Einheit und der sozialen, politischen und kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West. Dass rassistische und nationalistische Ressentiments bis heute vor allem als ostdeutsches Phänomen vorgestellt werden, ist ein deutliches Symptom für die weiter entlang der ehemaligen Grenze verlaufenden In- und Exklusionssemantiken. Aber auch die Tatsache, dass Wende- und Postwendezeit von den meisten Westdeutschen kaum als individuell einschneidende Veränderung wahrgenommen wurden, spricht für die Persistenz von Zusammenhaltsvorstellungen, die an der alten Bundesrepublik Deutschland orientiert bleiben.
Das Projekt untersucht also Vorstellungen von Zusammenhalt entlang der Kategorien (Ent-)Solidarisierung, Zugehörigkeitsgefühle und -semantiken und Institutionsvertrauen in ökonomischen, sozialen und kulturellen Bezügen. Es leistet einen vor allem vergleichend-kontextualisierenden und empirisch-analytischen Beitrag. Es fragt nach der Bedeutung von Erinnerungen an die Wende- und Nachwendezeit als Faktor für die Entstehung oder Erosion von Zusammenhalt. Dabei stehen die diskursiven Rahmenbedingungen der politischen Kultur, die affektive Dimension von Zusammenhalt und Beziehungen und Praktiken auf der Mikroebene (Arbeitskämpfe) zur Diskussion.
Projektleiter:innen und Kontakt
Dr. Felix Axster
Dr. habil. Mathias Berek
Laufzeit, Cluster und Forschungsfelder
Laufzeit:
06 / 2020 – 05 / 2024Cluster und Forschungsfelder:
- Cluster 2: Strukturen, Räume und Milieus des Zusammenhalts
- Cluster 3: Historische, globale und regionale Varianz des Zusammenhalts
Termine
KulturMarktHalle, Hanns-Eisler-Str. 93, 10409 Berlin
Ist die Wende zu Ende? (Berlin)
Markt 16/17, 15344 Strausberg
Ist die Wende zu Ende? (Strausberg)
Ist die Wende zu Ende?
Bahnhofstraße 35, 99734 Nordhausen
Ist die Wende zu Ende? (Nordhausen)
Bahnhof Apolda, Bahnhofstraße 69, 99510 Apolda
Ist die Wende zu Ende? (Apolda)
„Roter Saal“, Historische Sternwarte Geismar Landstraße 11 37083 Göttingen
Workshop: Arbeit und Zusammenhalt in der FGZ-Forschung. Beiträge aus dem Forschungsfeld „Arbeits- und Lebenswelten“
Publikationen
Verschenkte Potenziale. Marginalisierte Ideen über gesellschaftlichen Zusammenhalt im Kaiserreich und in der Nachwendezeit
Rezension von: Christian Rau: Hungern für Bischofferode. Protest und Politik in der ostdeutschen Transformation
Begegnungen zwischen Ungleichen: Geschichten über solidarisches Handeln gestern und heute
„Satellit“: Erzählungen über die Nachwendezeit als Schnittstelle zur Gegenwart
Wahlverhalten und Zusammenhalt in Magdeburg 2021
Between visiting diary and political visions: recovering treasures from the Lazarus estate for the present
Abwicklung und Arbeitskampf. Erinnerungen an Ohnmacht und kollektive Selbstwirksamkeit in der Nachwendezeit
Die „Wende“ als Form der Kolonisierung? Zur Genese und Aktualität eines populären Deutungsschemas
Die Kolonisierungs-Analogie auf dem Prüfstand. Im Gespräch mit Katharina Warda und Heiner Schulze
„Der kleine Bruder geht in den Knast, damit der große Bruder weiter Geschäfte machen kann.“ Im Gespräch mit Dirk Oschmann
Kollektive Identität
Kultur
Trauma
Warum erinnern? Erinnerungskultur als Werkzeug von Zusammenhalt und Identität
Rassismuskritik und Antisemitismuskritik – Geschichte einer Entfremdung
Im Spannungsfeld von Solidaritätsansprüchen und Relativierungsvorwürfen: Zum Konzept der multidirektionalen Erinnerung
Racism, Antisemitism and Achievement: Christoph Meiners and his Theory of the Nonequivalence of Human Beings
Das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Ein aktueller Blick auf Widersprüche im Urteilen. Podiumsdiskussion mit Felix Axster und Priya Basil
Zusammenhalt, Ressentiment und Solidarität in biographischen Erzählungen über die Nachwendezeit
The Thin Crust of Civilization. Lessons from the German Jewish Past
Der Kampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus
Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte
Politische Partizipation 1848-1933
Nachwort: Multidirektionale Erinnerung in Deutschland
Zur Einführung: Interview mit Michael Rothberg
„Verunreinigtes Blut“ - Die Kritik am Impfen ist so alt wie das Impfen selbst – und verband sich schon im 19. Jahrhundert mit antisemitischen Vorurteilen
Zwischen Postnazismus und Post-Migration: Jüdische Perspektiven auf die Wende- und Nachwendezeit. Gespräche mit Max Czollek, Dmitrij Kapitelman, David Kowalski und Hannah Peaceman
Kollektiv
Der Begriff „soziale Gedächtnisse“
Zwischen Postnazismus und Post-Migration: Jüdische Perspektiven auf die Wende- und Nachwendezeit
FGZ-interne Kooperationspartner:innen
Dr. Janine Dieckmann
Prof. Dr. Gert Pickel
Prof. Dr. Jonas Rees
Prof. Dr. Daniel Thym
Prof. Dr. Berthold Vogel
Praxispartner:innen
- AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West
- Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
- Projekt „Erzählt und zugehört“, Stiftung SPI – Sozialpädagogisches Institut Berlin „Walter May“, Geschäftsbereich Lebenslagen, Vielfalt und Stadtentwicklung
- Projekt „Eigensinn im Bruderland“
- Rosa-Luxemburg-Stiftung
- Kulturbüro Sachsen e.V.
- Miteinander - Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V.