Praktische Integration durch Arbeit? Eine ethnographische Studie zur Arbeitssozialisation von Migranten und Flüchtenden in Deutschland
KON_F_05 – Projekt des FGZ Konstanz
Zielsetzung / Fragestellung
In Debatten zur Integration von Flüchtenden mit Bleiberecht und Migrant*innen in Deutschland wird neben Deutschkenntnissen der Berufstätigkeit bzw. der Erwerbsarbeit ein zentraler Stellenwert zugesprochen, da in ihr eine Quelle des gesellschaftlichen Zusammenhalts gesehen wird. Das Projekt will Mikrodynamiken sozialer Kohäsionsbildung empirisch untersuchen und fokussiert vor allem auf den Nexus von kulturellen Orientierungen, sozialen Praktiken und situativen interpretativen Prozessen. Es geht von der Beobachtung aus, dass die Ausübung einer ‚geregelten Erwerbsarbeit’ nicht nur für wirtschaftliche Selbstversorgung steht, sondern auch für zahlreiche lebensweltliche Dimensionen von Zusammenhaltsvorstellungen und Integrationserwartungen, beispielsweise die zeitliche Strukturierung des Lebensvollzugs, Kooperativität, Sachbezogenheit, Verantwortungsübernahme, Gemeinsinn und Selbstdisziplin.
Das Projekt untersucht als Fallstudie erstens die oftmals verkörperten und schwer verbalisierbaren praktischen Formen der Kooperation und Koordination, durch die Integration im Arbeitsvollzug erfolgt, sowie zweitens den sozialen Mehrwert der Arbeitsintegration in Bezug auf die darin eingelagerten moralischen Erwartungshaltungen und die weiteren kulturellen und sozialen Bedeutungen, die mit Erwerbsarbeit als Integrationsmotor im übergeordneten gesellschaftlichen Kontext verbunden werden. Das im Schnittbereich von Ethnologie und qualitativer Soziologie angesiedelte Projekt setzt sich zum Ziel, die Verschränkung dieser Dimensionen von Integration anhand der ethnographischen Untersuchung (z.B. im Rahmen von videogestützten teilnehmenden Beobachtungen) von Prozessen der Erwerbsarbeitssozialisation von Flüchtenden mit Bleiberecht und Migrant*innen in deutschen mittelständischen Unternehmen herauszuarbeiten, deren Belegschaft sozio-kulturell divers ist. Auf Grundlage einer videogestützten teilnehmenden Beobachtung von Arbeitspraktiken und Interaktionen zwischen migrantischen Berufseinsteiger*innen und arbeitsanleitenden Vertreter*innen der Unternehmen steht die Frage im Zentrum des Interesses, wie der praktische Arbeitsvollzug gestaltet ist und welche an diesen angebundenen kulturell-normativen Orientierungen bei der Erwerbsarbeitssozialisation kommuniziert werden. Insgesamt wird in dem Projekt beispielhaft herausgearbeitet, wie makrostrukturell wirksame Vorstellungen des Zusammenhalts mit praktischen Ressourcen und Prozessen in sozialen Mikrodynamiken aufeinandertreffen und zur Aushandlung kommen.
Thematischer Bezug zu gesellschaftlichem Zusammenhalt
Die Integration von Zuwanderer*innen nach Deutschland wird oft als krisenhaft beschrieben. Zugleich wird gesellschaftlicher Zusammenhalt in diesem Zusammenhang häufig als normativer Konsens verstanden, den Zuwanderer*innen nur auf kognitiv-theoretischer Ebene – etwa in Integrationskursen oder in Form einer Leitkultur – erlernen müssten, um integriert zu sein. Das beantragte Projekt sieht demgegenüber (1) den Bereich sozialer Praktiken als zentral für Integration an: Im praktischen Arbeitsvollzug werden implizite, oftmals verkörperte, zugleich kulturspezifische Formen interaktionaler Kooperation und Koordination erlernt und eingeübt, die über die spezifischen Erwerbsarbeitssituationen hinausweisen und eine allgemeine Form des kulturellen Wissens annehmen. (2) Diese kooperativen Praktiken sind hochgradig moralisch aufgeladen und werden als Indices nicht nur für die situative und allgemeine Integrationsfähigkeit, sondern auch die grundsätzliche Integrationswilligkeit von Personen interpretiert. Ein „Nicht-Können“ wird dann oft als „Nicht-Wollen“ interpretiert oder umgekehrt, wobei einerseits kulturell-normative Anforderungen als „arbeitsbedingt notwendig“ gerahmt und dadurch „entkulturalisiert“ werden, andererseits bestimmte Fertigkeiten wiederum „kulturalisiert“ werden. Ferner handelt es sich um einen Bereich, dessen Sozialbeziehungen machtvoll aufgeladen und durch Ungleichheiten gekennzeichnet sind. Die von Migrant*innen erwartete Sozialisation in neue Erwerbsarbeitspraktiken hinein ist somit ein Feld, in dem sich das Erlernen kultur- und situationsspezifischer sozialer Praktiken in Verbindung mit Zusammenhaltskonzeptionen, gestellten Integrationserwartungen und den Dynamiken der interkulturellen Aushandlung von Spielräumen in der situativen beziehungsweise kontextabhängigen Anpassungen dieser Erwartungen gewissermaßen ab ovo beobachten lassen. Dieses Ziel stellt sich das beantragte Projekt.