ZKF Public Talk: Abhängigkeit affirmieren? Feministisch-materialistische Perspektiven
Vortrag
In der soziologischen und feministischen Theorie wurde der Zustand der Abhängigkeit häufig vor allem als negativer Zustand verstanden. Die Unabhängigkeit von patriarchalen Strukturen, von Zwängen heteronormativer und bürgerlicher Lebensstile sowie von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen ist bis heute zumindest ein normativer Horizont feministischer Theorie und Praxis. Dieser Horizont ist eng mit einem der zentralen Werte der Moderne verbunden: der Autonomie. Die Krisen der Gegenwart stellen diese normativen Gewissheiten jedoch in Frage. Es wird immer deutlicher, dass die Leugnung von Abhängigkeiten von menschlichen und mehr-als-menschlichen Anderen – von anderen Menschen, Energielieferungen, natürlichen Ressourcen, Gesundheitsversorgung und so fort – wesentlich zur Verschärfung gegenwärtiger Krisendynamiken beiträgt. Das Spannungsverhältnis zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit sollte vor diesem Hintergrund genauer untersucht und einer Neubewertung unterzogen werden.
Der Vortrag diskutiert vor diesem Hintergrund verschiedene feministische Materialismen und konzentriert sich auf deren jeweilige Kritik an Dualismen. So kann gezeigt werden, dass die Leugnung von Abhängigkeit stark mit dualistischen Logiken verbunden ist und soziologische Theorie und Analyse eine pauschale Abwertung von Abhängigkeiten nicht wiederholen sollte. Vielmehr scheint die partiale und strategische Affirmation von Abhängigkeitsverhältnissen politisch und analytisch geboten: Sie stellt sowohl das moderne dualistische Denken als auch das Konzept der Autonomie in Frage.