Dynamiken verfassungsrechtlicher (Un-)Gleichheit
B_04 – Projekt des FGZ Konstanz
Das Arbeitspaket (AP) speist eine verfassungsrechtliche Perspektive in den Schwerpunkt 1 des Themenfelds ein: Ungleichheiten aufgrund von Geschlecht, sexueller Orientierung, Ethnizität, Religion, Hautfarbe oder körperlicher Beeinträchtigung sind in den vergangenen Jahren zunehmend aus rechtlicher Perspektive adressiert worden und haben maßgeblich zu Transformationen von Status- und Verteilungsordnungen beigetragen. Interessanterweise werden Ungleichheiten aufgrund der sozialen Herkunft beziehungsweise der sozioökonomischen Schichtzugehörigkeit in verfassungsrechtlichen Diskussionen vergleichsweise weniger bearbeitet.
Den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Untersuchung bilden drei Leithypothese: Erstens, dass die Relevanz und Legitimität unterschiedlicher Ungleichheitspositionen nicht statisch gegeben sind, sondern einem Wandel unterliegen. Zweitens, dass sich dieser Wandel auf der Ebene des Verfassungsrechts primär durch Auslegung vollzieht, d.h. durch Verfassungswandel und nicht durch Verfassungsänderung. Beispiele hierfür sind der Ehebegriff des Grundgesetzes und die Auslegung des Diskriminierungsverbotes wegen der „Rasse“. Im Institutionengefüge bedeutet das, dass die Rechtsprechung der zentrale Initiator und Akteur ist. Drittens werden verfassungsrechtliche Veränderungen durch gesellschaftliche Prozesse angestoßen, haben aber ihrerseits wiederum Auswirkungen auf die Bewertung von Ungleichheitspositionen in einer Gesellschaft.
Welche Ungleichheiten in einer Gesellschaft legitim sind und wo Veränderungen anzustoßen sind, spiegelt sich in der Rechtsordnung, wobei das Verfassungsrecht aufgrund der ihm zukommenden Integrationsfunktion eine besondere Rolle einnimmt. Zugleich kann das (Verfassungs-) Recht Auswirkungen darauf haben, wie Menschen sich und ihre eigene (Ungleichheits-)Position wahrnehmen. Das Vorhaben untersucht die Rolle des Verfassungsrechts bei der Herausbildung, Stabilisierung, Infragestellung und Transformation von Ungleichheitspositionen. Eine solche rechtswissenschaftliche Analyse ist besonders interessant, weil sich gesellschaftliche Vorstellungen von der Legitimität bestimmter Ungleichheiten einerseits in der Verfassung und ihrer Auslegung spiegeln und das Verfassungsrecht zugleich eine Perspektive darstellt, aus der Ungleichheitspositionen wahrgenommen werden.
Ungleichheit droht den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden, andererseits können ungleiche Lebenssituationen auch Folge freiheitlich getroffener Entscheidungen sein. Individualität, Autonomie und Einzigartigkeit sind wesentliche Errungenschaften moderner Gesellschaften und ihrer jeweiligen Verfassungen. Bis zu welchem Grad welche Ungleichheitspositionen in einer Gesellschaft akzeptiert werden, ist keine statische Größe, sondern muss immer wieder neu ausgehandelt werden.
Die öffentliche und juristische Aufmerksamkeit für einzelne Formen der Ungleichheiten hat sich im Laufe der Zeit verschoben: Ungleiche Chancen und Teilhabemöglichkeiten wegen des Geschlechts wurden unter Geltung des Grundgesetzes von Anbeginn an und zunehmend hinterfragt, angeprangert und rechtlich – wie auch tatsächlich – immer weiter abgebaut. Ein „Schattendasein“ führten hingegen lange Zeit Ungleichheiten wegen der ethnischen Herkunft; in jüngerer Zeit werden diese jedoch zunehmend adressiert. Hieran zeigt sich exemplarisch, dass Ungleichheitspositionen gesellschaftlich und verfassungsrechtlich nicht statisch betrachtet werden können, sondern Transformationsprozessen unterliegen und immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Und auch das Verständnis von Ungleichheit unterliegt einem Wandel. So werden mittlerweile nicht nur direkte Ungleichbehandlungen von den Diskriminierungsverboten erfasst, sondern auch sogenannte mittelbare Erscheinungsformen. Besonders deutlich werden die Dynamiken im Kontext der gegenwärtig – nicht allein in der Rechtswissenschaft – geführten Debatte um die Bewertung sogenannter struktureller bzw. institutioneller Diskriminierungen.
Unter dem Stichwort der Intersektionalität wird das Zusammentreffen mehrerer Merkmale (beispiels- weise „muslimisch“ und weiblich“) thematisiert. Die verfassungsrechtliche Diskussion konzentriert sich auf die juristisch-dogmatische Erfassbarkeit solcher Überschneidungen in der Person des von Diskriminierung Betroffenen. Dynamik, Wandel und Interdependenzen werden indes verfassungsrechtlich bislang nicht hinreichend beleuchtet.
Ungleichheitspositionen haben auch eine ökonomische Dimension. Im Lichte gesellschaftlicher Transformationsprozesse (Energiesicherheit, Klimawandel) und Krisensituationen (Pandemie, Krieg) tritt diese besonders zutage. Auf die Ebene des Verfassungsrechts wird dies vereinzelt projiziert, wenn die Legitimität des Privateigentums sowie des Erbrechts in Frage gestellt und die Vergesellschaftung von Wohnraum gefordert wird. Hier lassen sich Ansätze erkennen, ökonomische Ungleichheitspositionen neu zu verhandeln, und zwar gerade auch unter Rekurs auf den Topos des Zusammenhalts/ der Zusammenhaltsgefährdung.
Das Vorhaben setzt hier an und analysiert spezifisch die Dynamik verfassungsrechtlicher (Un-)Gleichheit auf einer Metaebene. Damit schließt das Vorhaben eine Leerstelle in der bisherigen Forschung, die vornehmlich einzelne Ungleichheitspositionen fokussiert.