Qualitatives Panel: Milieuspezifische Praktiken der Gefährdung und Wahrung gesellschaftlichen Zusammenhalts
B_10 – Projekt des FGZ Bremen – Projekt des FGZ Göttingen – Projekt des FGZ Hamburg
Das Arbeitspaket (AP) wird seit Juni 2020 in enger Kooperation der Standorte Bremen und Göttingen durchgeführt und in der zweiten Förderphase des FGZ unter Einbezug des Standorts Hamburg fortgesetzt. Im Anschluss an internationale Forschungen zu politischer Polarisierung und soziokultureller Spaltung untersucht es aus qualitativ-empirischer Perspektive die soziale Praxis gesellschaftlichen Zusammenhalts im Vergleich unterschiedlicher sozialer Milieus. Unter sozialen Milieus verstehen wir latente soziale Großgruppen, die sich in ihrer sozio-ökonomischen Lage und ihren kulturellen Werten ähneln. Wir rücken damit die Akteur:innen und ihre Lebensführungsmuster in ihrer Prägung durch die Arbeits- und Lebenswelt von Haushalten, sozioökonomischen Faktoren und Einstellungen sowie Werten ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Durch den Fokus auf milieutypische Praktiken der Lebensführung trägt die Panelstudie in verschiedenen Hinsichten zu den Leitfragen und inhaltlichen Schwerpunkten des Themenfelds B bei. Erstens können durch das kontrastive Sampling die Positionierungen ganz unterschiedlicher Sozialgruppen in den Blick genommen werden. So können wir über verschiedene Milieus hinweg die Verhältnisse zwischen objektiver Ressourcenausstattung, subjektiver Selbstpositionierung und intersubjektiven Statuskämpfen vergleichen und so zur Leitfrage nach dem Zusammenhalt unter „Ungleichen“ beitragen. Die offene Befragungsform gewährt tiefe Einblicke in die Relevanzstrukturen der Befragten – und damit in praktisch folgenreiche Bezugsrahmungen der eigenen Positionierungen in Status- und Verteilungsordnungen: Mit wem halten „wir“ zusammen – und warum? Was sind die Bedingungen des Zusammenhalts, insbesondere des „Zusammenhalts unter Ungleichen“? Wann wird ein Zusammenhalt überhaupt als gelungen oder misslungen empfunden? Wer oder was gefährdet „unseren“ Zusammenhalt?
Zweitens ermöglichen die offene Erhebungsform (qualitative, narrative Interviews) und die rekonstruktiven Auswertungsmethoden zwischen „erzähltem und gelebtem Leben“ zu trennen, indem objektive biographische Daten (und ggf. zeithistorische Daten) mit den biographischen Inszenierungen unserer Interviewpartner:innen verglichen werden. Dadurch können Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit der eigenen Lebensführung und den eigenen Zusammenhaltspraktiken aufgespürt werden. Insbesondere wollen wir mit Blick auf die in unserem Sample enthaltenen Mittelschichtmilieus den „Lebenslügen der Mittelschichten“ nachgehen und danach fragen, wie Verteilungskonflikte im Haushaltskontext bearbeitet, aber auch vorangetrieben werden. Da im Panel Angehörige aller Statusgruppen zu finden sind, ist zudem prüfbar, inwiefern subjektive Wahrnehmungen und objektive Statusindikatoren zusammenhängen und ob Unterschiede zwischen oberen, mittleren und unteren Statusgruppen zu beobachten sind.
Drittens fragen wir, welche negativen externen Effekte milieuspezifischer Zusammenhaltspraktiken erkennbar werden und was die Reaktionsmuster der hiervon negativ betroffenen Sozialgruppen sind. Durch die Befragung prekarisierter und marginalisierter Haushalte und dem anvisierten Fokus auf politische Dimensionen der Lebensführungen erwarten wir davon auch Beiträge zum Verständnis politischer Reaktionsformen auf tatsächliche oder gefühlte Deprivation, etwa hinsichtlich von Konflikten (oder Konfliktpotenzialen) zwischen tatsächlich prekären und marginalisierten Bevölkerungsgruppen auf der einen Seite und „gefühlten“ Modernisierungsverlierer:innen auf der anderen Seite.
Schließlich helfen uns viertens die erhobenen Längsschnittdaten dabei, persistente Orientierungen von kurzfristigen Einstellungen zu unterscheiden und damit auch zwischen langfristigen Statuskonflikten und vorübergehenden Meinungskämpfen zu differenzieren. Aufgrund der Panelstruktur können sowohl Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen und privaten Krisenerfahrungen in den Blick genommen als auch die Herausbildung neuer Solidaritätspotenziale und Zusammenhaltsformen beobachtet werden. Zudem können durch die ausführlichen biographischen Informationen aus der ersten Welle sozialpsychologisch orientierte Erklärungsansätze zur Genese rechtspopulistischer oder autoritärer Orientierungen in frühen Sozialisationsphasen unterfüttert werden.
Das Qualitative Panel verortet sich somit inhaltlich in allen drei Schwerpunkten des Themenfelds B. So können wir Effekte von Legitimitätsverlusten von Status- und Verteilungsordnungen untersuchen und zu einem vertieften Verständnis auch symbolischer Kämpfe zwischen sozialen Gruppen, beispielsweise im Kampf um wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Ankernennung, beitragen und damit Effekte von Transformationen tradierter Verteilungsordnungen untersuchen (Schwerpunkt 1 und 2). Dass sich soziale Milieus in sozialen Netzwerken bilden – und zugleich in die Bildung solcher Netzwerke hineinwirken – ist für uns grundlegende Annahme, weshalb wir in unserer Untersuchung auch auf verschiedene soziale Kreuzungspunkte fokussieren: Soziale Netzwerke und Solidaritäten in der Erwerbsarbeitssphäre, aber auch in anderen wichtigen, teils auch mediatisierten Lebensbereichen lassen Prozesse der Segmentation und Praktiken symbolischer Grenzziehungen sozialer Milieus (Schwerpunkt 3) für uns verstehbar werden.
Das Sample der Panelerhebung umfasst 91 Haushalte unterschiedlicher beruflich-sozialer Statusgruppen in fünf kontrastiv gewählten Regionen Deutschlands und ist in Bezug auf soziale, ökonomische und kulturelle Ungleichheitsdimensionen heterogen zusammengesetzt. Dadurch ist ein systematischer Vergleich zwischen verschiedenen Milieus, aber auch zwischen Befragten desselben Milieus und den dort vorfindbaren Lebensführungsmustern, Haltungen und den teils konflikthaft, teils konsensual praktizierten Vorstellungen eines gelingenden Zusammenhalts möglich. Zudem ermöglicht die Erhebung die Analyse von sozialen Praktiken unterschiedlicher Statusgruppen in ihren Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Lebensbereichen (Arbeit, Familie, Nachbarschaft etc.) und institutionellen Strukturen.
Aufgrund der Panelstruktur können Veränderungen über die Zeit erforscht werden – zum einen als Erwartungen und Planungen in die Zukunft, zum anderen als Reaktionen auf und Anpassungen an gesellschaftliche Transformationsprozesse. So kann gezielt untersucht werden, welche intendierten wie nicht-intendierten Effekte soziale Praktiken in verschiedenen Statusgruppen und Milieus auf die Stärkung sowie Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts haben. Durch die Fortsetzung in zwei weiteren Wellen wird das Potential des Qualitativen Panels in seiner längsschnittlichen Anlage intensiv ausgeschöpft: Sowohl auf Ebene der Individuen als auch der Haushalte werden Dynamiken und Beharrungskräfte über einen längeren Zeitraum sichtbar gemacht. Durch die wiederholten Befragungen sehen wir, wie mit neuen sozialen, politischen und ökonomischen – teilweise krisenbehafteten – Transformationen umgegangen wird, ob und wie sich Haltungen ändern und wie stabil oder fragil Orientierungen und Praktiken sind. Der Vergleich unterschiedlicher sozialer Milieus gibt zudem Aufschluss über ungleiche Betroffenheiten von krisenhaften Transformationsdynamiken. Empirisch haben sich die syn- und diachronen Praktiken der Lebensführung unserer Interviewpartner:innen mit exit, voice und loyalty zielführend konzeptualisieren lassen. In der zweiten Phase wollen wir diese Vorüberlegungen weiter ausarbeiten und insbesondere auf milieuspezifische Bedingungen von Praktiken schauen: Welche sozialen Gruppen erweisen sich – trotz möglicher Unzufriedenheiten – als loyal gegenüber der Gesellschaft und ihren Institutionen (loyalty)? Welche Gruppen erweisen sich als besonders lautstark in ihren Veränderungs- oder Konservierungsforderungen an die Gesellschaft und ihre Institutionen (voice)? Und welche Milieus reagieren in erster Linie durch Rückzug auf gesellschaftliche Transformationsprozesse und eigene Unzufriedenheiten und wieso (exit)?