Zur Rolle von Religion in historischen und aktuellen Analysen von gesellschaftlichem Zusammenhalt

BER_F_02 – Projekt des FGZ Berlin

Zielsetzung / Fragestellung

Wie die Beschneidungsdebatte des Jahres 2012 gezeigt hat, können säkulare Argumentationsmuster durchaus dazu dienen, tiefsitzende religiöse Ressentiments zu camouflieren. Bei der Pegida-Bewegung wiederum lässt sich ein verwandtes Phänomen der Camouflage beobachten, allerdings nun mit Bezug auf religiöse Argumentationsmuster und gewissermaßen „von unten“: Ausgerechnet in einer der wohl säkularsten Regionen Europas, der ehemaligen DDR, rekurriert eine Protestbewegung auf den zutiefst christlichen Topos des „Abendlands“, nun neu formiert als „christlich-jüdisch“, um die Ausgrenzung der dritten großen monotheistischen Religion Europas, des Islam, vorgeblich historisch zu begründen. All diese Konfliktfelder belegen einmal mehr, dass eine zumindest nominelle Ablehnung des Antisemitismus zwar mittlerweile Grundbedingung für die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft geworden ist, um den Preis allerdings eines nicht unbeträchtlichen Instrumentalisierungspotenzials für neue, nun anti-muslimische Ausgrenzungen.

Das Forschungsprojekt strebt eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger Debatten um gesellschaftlichen Zusammenhalt und seiner vermeintlichen Bedrohtheit an und fokussiert dabei auf religiöse Aspekte und Fragestellungen (Beschneidungs- und Kopftuchdebatte, Islam-Konferenz, Pegida-Bewegung, Genese des Topos „christlich-jüdisches Abendland“ etc.). Insbesondere geht es um eine Historisierung dieser Debatten beziehungsweise um einen Vergleich mit ähnlich gelagerten Auseinandersetzungen über das Verhältnis zwischen Staat und Religion im 19. Jahrhundert, die mit Blick vor allem auf das Judentum geführt wurden. Das Ziel ist, zu einem besseren Verständnis der spezifischen Dynamiken und Problemkonstellationen von Debatten über Säkularismus, Religion und Migration beizutragen.

 

Thematischer Bezug zu gesellschaftlichem Zusammenhalt

In historischer Perspektive tritt der ambivalente Charakter von Religion, aber auch ihr Potenzial, besonders deutlich zu Tage: Zum einen sind religiöse Glaubenssysteme immer das wohl stärkste Fundament gesellschaftlichen Zusammenhalts gewesen, zum anderen wurde und wird gerade mit religiösen Argumenten gesellschaftliche Spaltung und Ausgrenzung machtvoll begründet. Seit dem 19. Jahrhundert wird diese inhärente Spannung in Deutschland überwölbt von der zumindest theoretisch postulierten Vorstellung eines säkularen, rationalen Staates – den es so jedoch weder normativ (s. Staatskirchenrecht) noch in der gesellschaftlichen Praxis je in Reinkultur gegeben hat. Hier liefert die jüdische Geschichte eindrückliche Beispiele: So baute der nur vorgeblich wissenschaftliche, rassistisch begründete, „moderne“ Antisemitismus nicht nur auf dem christlichen Antijudaismus auf, seine soziale Durchdringungskraft, seine emotionale Wirkmächtigkeit lässt sich vielmehr – gerade auf dem Land – nur mit älteren, subkutan vorhandenen religiösen Bildern erklären. Zugleich erwiesen sich vor allem religiöse Milieus – gerade auf dem Land – als besonders resistent gegen die nationalsozialistische Ideologie. Die gegenwärtig zu beobachtenden, inkonsistenten säkularen Argumentationsmuster im Umgang mit den beiden nicht-christlichen Religionen Judentum und Islam beleuchten einmal mehr die keineswegs geklärte Rolle der Religion in Staat und Gesellschaft. Wann ist Religion Ressource für Ab- und Ausgrenzungen, wann für gesellschaftlichen Zusammenhalt gerade über religiöse Grenzen hinweg? Kurzum: Wieviel Religion braucht das Land?

Das Projekt leistet einen gleichermaßen empirisch-analytischen wie vergleichend-kontextualisierenden Beitrag. Es fragt nach der Bedeutung von Religion und Religionsdebatten als Faktoren für die Entstehung und Gefährdung von gesellschaftlichem Zusammenhalt. Dabei stehen sowohl die diskursiven Rahmenbedingungen der politischen Kultur als auch die affektive Dimension von Zusammenhalt im Fokus der Aufmerksamkeit.

Projektleiter:innen und Kontakt

Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum
Berlin

Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum

Stefanie Schüler-Springorum ist Historikerin und leitet seit 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Nach…
schueler-springorum@tu-berlin.de

Laufzeit, Cluster und Forschungsfelder

Laufzeit:

01 / 2021 – 12 / 2023

Cluster und Forschungsfelder:

  • C1: Demokratie und Öffentlichkeit
  • C1: Soziale Pluralität
  • Cluster 3: Historische, globale und regionale Varianz des Zusammenhalts

FGZ-interne Kooperationspartner:innen

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff
Frankfurt am Main

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff

Nicole Deitelhoff ist seit 2009 Professorin für Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2016 Direktorin…
deitelhoff@prif.org
Prof. Dr. Gert Pickel
Leipzig

Prof. Dr. Gert Pickel

Ich bin Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Meine Schwerpunkte…
pickel@rz.uni-leipzig.de
Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher
Frankfurt am Main

Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher

Sigrid Roßteutscher ist seit 2007 Professorin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.…
rossteutscher@soz.uni-frankfurt.de 
Prof. Dr. Daniel Thym
Konstanz

Prof. Dr. Daniel Thym

Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. (London), geboren 1973, studierte in Regensburg, Paris, Berlin und London und war Mitarbeiter des…
daniel.thym@uni-konstanz.de
Prof. Dr. Richard Traunmüller
Frankfurt am Main

Prof. Dr. Richard Traunmüller

Ich bin seit Anfang 2020 Professor für Empirische Demokratieforschung an der Universität Mannheim. Zuvor hatte ich Positionen u.a. an…
traunmueller@uni-mannheim.de
» zurück zur Projektübersicht