Culture Wars und Moralismus-Kritik: Kämpfe um Werte und Identitäten
D_01 – Projekt des FGZ Berlin – Projekt des FGZ Leipzig
Das Arbeitspaket (AP) untersucht für Deutschland und den transatlantischen Kontext Sinnstrukturen und historische Entwicklungen der Konflikte um Werte, Identitäten und Wissensordnungen an Hand der Kulturkämpfe um Moral und Befreiung von Diskriminierung und Unterdrückung. Es konzentriert sich dabei auf die Geschichte der heutigen politischen Kampfbegriffe Gender, Wokeness und Moralismus.
Affektiv besetzte culture wars beziehen sich aktuell auf Themen wie ökonomische Ungerechtigkeit, rassistische oder sexistische Diskriminierung oder auf Maßnahmen gegen die Klimakrise. Zu beobachten ist dabei eine Moralismus-Kritik, die oft die Legitimität von Ethik generell anzweifelt, und damit eine der Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenhalts. Denn Ethik stellt eine Sinnstruktur zur Handlungsevaluation bereit, strukturiert geteilte Werte und begründet Solidarität. Rechtskonservative ebenso wie linke Kritiker monieren eine vermeintliche totalitäre „Tyrannei der Werte“ und angebliche Sprechverbote durch Political Correctness. Und auch in den Wissenschaften wird Moralismus kritisch diskutiert: Politikwissenschaftliche Untersuchungen etwa diagnostizieren moralisch provozierte Legitimationsverluste und Polarisierungen und sehen demokratische Institutionen durch die „selbstgerechte Stilisierung der eigenen moralischen Position“ bedroht. In der Moralphilosophie wird die „Erosion der Moral durch Moralisieren“ diskutiert – Moralismus instrumentalisiere Ethik, reduziere Komplexität und maße sich Zuständigkeit an. Und den Sozialwissenschaften attestiert Hirschman sogar eine traditionelle Abneigung gegenüber der Moral.
Auch in den transatlantischen culture wars um Konzepte wie Gender und Wokeness wird Moralismus kritisiert. Zudem wird konstatiert, dass diese aus den USA „importierten“ Denkweisen auf Grund von Partikularinteressen und Identitätspolitik zugunsten bestimmter sozialer Gruppen den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und „den Westen“ allgemein bedrohten. Gleichzeitig findet eine semantische Umdeutung statt. Ging es in den USA seit dem 19. Jahrhundert beim Begriff Wokeness um Wissen und Wachsamkeit in Bezug auf Diskriminierung, wurde er in der letzten Dekade mit cancel culture in Verbindung gebracht und mit einem Moralismus-Vorwurf belegt. Eine ähnliche Verkehrung ins Gegenteil erlebte der Begriff Gender, der ursprünglich darauf abzielte, Wissen über geschlechtsspezifische Ungleichheiten zu generieren, inzwischen aber als „Gender-Ideologie“ für bestimmte gesellschaftliche Gruppen zum Symbol für die Gefährdung einer heteronormativen gesellschaftlichen Ordnung und für demokratische Gesellschaften allgemein geworden ist.
Um verstehen zu können, wie sich die verschiedenen Positionen in den Debatten um Moralismus und culture wars zu Fragen des Zusammenhalts verhalten, will das AP zwei Forschungslücken schließen: 1. Welche Motive und Argumentationsmuster finden sich bei den konkreten Akteur:innen der Moralismus- und culture war-Debatten? 2. In welchen historischen Abhängigkeiten stehen die Debatten? Denn neu sind weder moralische Argumentation noch Moralismus-Kritik und „Kulturkämpfe“.
Beide Forschungslücken werden in zwei zusammenhängenden Modulen adressiert.
Modul 1 (Lüthi/Möhring) fokussiert die Frage von Wokeness und Gender-Ideologie innerhalb von culture wars dies- und jenseits des Atlantiks vor allem seit den 1960er Jahren. Seit Dekaden beeinflussen „epistemologies of liberation“, wie die Fragen von Geschlecht, gesellschaftliche Selbstverständnisse, Identitätspolitiken und Vorstellungen politischer und kultureller Partizipation. Untersucht werden sollen die argumentativen Repertoires und rhetorischen Strategien der Debatten (etwa affektive Dynamiken und moralische Repertoires) und deren unterschiedlichen Adaptionen für die USA, Deutschland und die Schweiz. Eine vorläufige These ist, dass die von Ressentiment- und Social-Media-Dynamiken radikalisierten Debatten um die zu Kampfbegriffen gewordenen Begriffe „woke“ und „gender“ die Diskussionskultur dabei auf eine Art verändern, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.
Modul 2 (Berek) geht von der Beobachtung aus, dass die Problematisierung von Moralismus auch zur Delegitimierung der Kritik an kritikwürdigen Zuständen genutzt wird, indem Teilbereiche von Gesellschaft der Geltung von Moral entzogen werden sollen. Eine Untersuchung deutscher Debattenbeiträge der letzten fünf Jahre soll Überblick darüber verschaffen, welche realen und konstruierten Positionen als moralistisch interpretiert werden, wo die Grenzen zwischen berechtigter moralischer Kritik und „verwerflichem Anprangern“ gezogen werden und von welchen politischen oder philosophischen Positionen aus Moralismuskritik geäußert wird. Ein zweiter Schritt widmet sich den historischen Pfadabhängigkeiten der gegenwärtigen Debatten. Die Wurzeln der „Moralophobie“ lassen sich zwar bis in die Renaissance zurückverfolgen, für die Gegenwart bestimmender sind jedoch die kulturpessimistischen Spielarten ab dem 19. Jahrhundert. Auf dieser historischen und diskursanalytischen Grundlage soll schließlich eine Aktualisierung der theoretischen Diskussion um Zusammenhalt und Ethik unter Rückgriff auf berechtigte Bedenken der Moralismus- Kritik vorgenommen werden.