Die Ordnungs- und Idealvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft prägen das Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Erfahrungen und Erwartungen von benachteiligten Gruppen finden darin kaum Gehör. Wir erforschen das Zusammenhaltserleben von Menschen, die als "marginalisiert" gelten. Dazu gehören Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen, beruflichem Statusverlust, Armut, Wohnungslosigkeit oder Drogensucht.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht häufig auf Kosten benachteiligter Gruppen durch deren Ausschluss, Abwertung und Verdrängung. Dies macht Zusammenhalt zu einer zwiespältigen Kategorie. Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich in politischen Forderungen nach Zusammenhalt: So werden bildungsarme Haushalte sowohl zu Adressatinnen bildungspolitischer Interventionen, gelten aber zugleich als „Problemfall“ der modernen Wissensgesellschaft. Auch von Armut Betroffene, Wohnungs- und Erwerbslose sowie Menschen mit Drogenproblemen wird eine unzureichende soziale „Leistungsbilanz“ attestiert. Gleichzeitig werden sie sowohl auf gesellschaftlicher als auch sozialräumlicher Ebene marginalisiert.
Wir erforschen, wie Betroffene diese Zuschreibungen wahrnehmen und einordnen. Dabei interessieren uns ihre gruppen- und milieuspezifischen Vorstellungen von Zusammenhalt. Wir untersuchen ihre sozialen und politischen Reaktionen auf Marginalisierung und Abwertung. Gruppendiskussionen und Interviews zeigen ihre Perspektive auf gesellschaftlichen Zusammenhalt. Im Arbeitspaket erforschen wir zudem, ob die Befragten in der Zusammenhaltsidee einen Klassencharakter wahrnehmen. Wir fragen dabei auch, wie der Zusammenhang von Integration und Marginalisierung verhandelt wird. Ergänzt wird dies durch Diskursanalysen und Bevölkerungsbefragungen mit Fokus auf abwertende Einstellungen zu marginalisierten Gruppen.
Transferaktivitäten
Wir diskutieren unsere Ergebnisse mit Praxispartnern und Betroffenen. Über Formate wie Podcasts erreichen wir die interessierte Öffentlichkeit. Nach dem Prinzip "Mit statt über Menschen reden" stellen wir die Erkenntnisse auch den untersuchten Gruppen zur Verfügung. Dies geschieht durch niedrigschwellige Transferangebote.
Inhalte des Arbeitspakets
Das Arbeitspaket (AP) untersucht die zusammenhaltsgefährdenden und -stiftenden Effekte sozialer Marginalisierung und interessiert sich dabei insbesondere für das Spannungsverhältnis von politischen Anrufungen gesellschaftlichen Zusammenhalts und subjektiven Wahrnehmungen ökonomischer Benachteiligung bzw. kultureller Missachtung. Empirisch geprüft wird die in der ersten Förderphase des FGZ kontrovers diskutierte Position, wonach die Kategorie des Zusammenhalts eine der gesellschaftlichen „Zone der Integration“ entstammende Ordnungsvorstellung sei. Folgt man dieser Annahme, so wird die Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnung nicht zuletzt auf Kosten benachteiligter Gruppen hergestellt, denen seitens der Mehrheitsgesellschaft eine defizitäre soziale Leistungsbilanz attestiert wird. Dieses Zusammenspiel von Integration und Marginalisierung kann sich in unterschiedlichsten Formen manifestieren, die von ausgrenzenden Normsetzungen über Vorurteile und Ideologien der Ungleichwertigkeit bis hin zum offenen Ausschluss von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben reichen und sich letztlich sogar gewaltförmig ausdrücken können. Das AP nimmt Marginalisierungserfahrungen von benachteiligten Gruppen in den Blick und spiegelt diese mit den gruppenspezifischen Vorstellungen und Erwartungen gesellschaftlichen Zusammenhalts. In den empirischen Fokus rücken damit von negativen Zuschreibungen, symbolischer Abwertung und potenziellem Ausschluss betroffene Gruppen: bildungsarme Haushalte (sogenannte „bildungs- ferne Milieus“) zum einen, Erwerbs- und Wohnungslose sowie Drogennutzende zum anderen. Die im öffentlichen Diskurs als „bildungsfern“ titulierten sozialen Klassen werden seit mindestens einem Jahrzehnt in die ambivalente Position gesetzt, Adressatin fürsorglicher bildungspolitischer Intervention zu sein und damit zugleich aber als sozialstruktureller Problemfall einer flexibilisierten Wissensgesellschaft zu gelten. Von Armut Betroffene, Wohnungs- und Erwerbslose sowie Menschen mit Drogenproblemen werden auf der Ebene von Gruppenzugehörigkeiten noch deutlicher als „Andere“ konstruiert. Sie gelten als „Verlierer:innen“ der Gesellschaft und sind von stigmatisierenden Zuschreibungen betroffen.
Das AP verfolgt einen sozialräumlichen Ansatz, der sich sowohl sozialräumlich auf ein relationales Verständnis von Positionen in der Sozialstruktur wie auch sozialräumlich auf lokal-territoriale Ungleichheiten bezieht. Wir interessieren uns dabei für die sozialen (und ggf. politischen) Reaktionsweisen peripherisierter Gruppen auf praktisch erfahrene Marginalisierung und subjektiv wahrgenommene Abwertung. Diese können die Form (im Wortsinne) reaktionärer Bekundungen von voice annehmen, die anschlussfähig sind für autoritäre Einstellungen und antidemokratische Ideologeme. Sie können aber auch in Gestalt von exit-Strategien gegenüber den vom gesellschaftlichen Zentrum ausgehenden Forderungen nach loyalty auftreten, d.h. als Abwendung vom lokalen gesellschaftlichen Leben und von sozial vorherrschenden Normativen. Mit derartigen Reaktionen gehen potenziell Individualisierung, Vereinsamung sowie eine negative gesellschaftliche (Selbst-)Einschätzung einher, welche die soziale und demokratische Teilhabe der Betroffenen einschränkt und sich damit wiederum negativ auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken kann. In diesem Sinne interessiert auch, inwiefern die Befragten den diskursiven Anrufungen gesellschaftlichen Zusammenhalts einen klassistischen Gehalt zuschreiben und ob entsprechende Wahrnehmungen eines Klassencharakters der Zusammenhaltsidee illiberale Haltungen und ressentimentale Affekte befördern. Andererseits können – als weitere Reaktionsweise – aus der Abwendung von den Normen und Räumen der Mehrheitsgesellschaft und der geteilten Erfahrung der Marginalisierung auch eine Hinwendung zu gruppeninternen Kontexten und damit neue Formen von loyalty resultieren. Die so möglicherweise entstehenden solidarischen Beziehungen unter Angehörigen der jeweiligen Gruppe bzw. anderer benachteiligter Gruppen könnten den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt stärken bzw. den Ausgangspunkt für alternative, inklusivere Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung bilden.