D_05 Demokratische und antidemokratische Politisierungstypen im französischen Politikunterricht

Standorte:

Halle

Fachdisziplinen:

Bildungswissenschaften , Politikwissenschaft

Gehört zu:

Abstract

Frankreich erlebt eine ähnliche Bedrohung durch erstarkende antidemokratische Kräfte wie Deutschland. Wir wollen erforschen, wie französische Jugendliche diese Kippmomente im Politikunterricht artikulieren, begründen und miteinander aushandeln. Dazu nutzen wir die Dorfgründungssimulation:  In der simulierten Abgeschiedenheit eines verlassenen Bergdorfs bestimmen Jugendliche selbst, welche Art von Zusammenhalt sie aufbauen wollen. 

Die Dorf-Debatten drehen sich um typische gesellschaftliche „Triggerpunkte“. Dazu gehören Herrschaft, Sozialstaat, Gender, sexuelle Orientierung, Migration, Religion und Klimawandel. Die Simulation liefert den Schüler*innen tools, um diese Konflikte möglichst demokratisch zu bearbeiten. Die Dorfgründung ist also nicht nur Erhebungsinstrument für jugendliche Werthaltungen. Sie ist auch Trainingscamp für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Beides ist neu in der internationalen politischen Bildungsforschung.

Die Dorfgründung knüpft an das Lehrplanziel „wehrhafter Republikanismus“ (= wehrhafte Demokratie) des noch jungen Fachs „Staatsbürgerliche und moralische Bildung“ an. Eine große Herausforderung ist die oft fachfremde Lehre im Frontalunterricht. Die Jugendlichen sind es kaum gewöhnt, miteinander zu diskutieren.

Unser Ziel ist, die Werthaltungen und Stile der Konfliktlösung (Politisierungstypen) herauszuarbeiten. Dazu analysieren wir Argumentationen mit Hilfe von Videoaufzeichnungen des Unterrichts und Interviews mit Schüler*innen. Die Ergebnisse vergleichen wir mit Befunden aus Deutschland. Außerdem diskutieren wir sie mit französischen Lehrer*innen und Lehrerbildungsinstituten. In einem weiteren Schritt sollen sie zu einem Diagnoseinstrument mit Lehrstrategien für einen demokratiefördernden Politikunterricht ausgebaut werden. Daraus soll mittelfristig ein internationaler fachdidaktischer Austausch von Best-Practice-Modellen der politischen Bildung erwachsen.


 D_04 - Jugend als Generation Krise? Sozialisation in Konflikten und Transformationen

⇨  D_06 - Transformation der gesellschaftlichen Verständigungsordnung

Sozialisationsdynamiken französischer Jugendlicher im Kontext Schule. Mit der Dorfgründungssimulation als in Deutschland erprobtes Erhebungsinstrument sollen kollektive Herstellungsprozesse gesellschaftlichen Zusammenhalts unter Jugendlichen mit Blick auf demokratische und antidemokratische Politisierungstypen rekonstruiert und typisiert werden, um sie mit bisherigen Befunden zu Politisierungsprozessen im deutschen Politikunterricht zu vergleichen. Zum einen wird beobachtet, wie die Jugendlichen Konflikte und Konkurrenzen um Werte, Welt- und Selbstdeutungen aushandeln, zum anderen trägt das AP zur Weiterentwicklung der Politikdidaktik hinsichtlich der Ausbildung inklusiver und kooperativer Zusammenhaltspraktiken bei. 

Frankreich eignet sich besonders als kultureller Vergleichshorizont, weil dort ähnliche, zugleich kulturspezifisch abweichende Kipp-Momente von loyalty zu voice und von voice zu exit zu erwarten sind. Rechtsextremismus, Islamismus, Ungleichwertigkeitsvorstellungen, Verschwörungstheorien und Fake News sind hier – verstärkt durch die besondere Kolonial- und Migrationsgeschichte – gesellschaftlich stark verankert. Die mit rechts- und linkspopulistischen Narrativen eng verknüpfte Gelbwestenbewegung ist wiederum mit der deutschen Querdenkerbewegung und der neuen Partei Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) verwandt. Zwar wissen wir um das Ziel des „wehrhaften Republikanismus“ des noch relativ jungen französischen Schulfachs „éducation civique et morale“. Doch Studien wie die vorliegende, die gezielt politikbezogene Interaktionen, also Orientierungskämpfe Jugendlicher im Unterricht, videographieren und argumentationstheoretisch auswerten, gibt es bisher nicht. 

Die Dorfgründungssimulationen wollen wir an Schulen durchführen, in denen die Affinität zu antidemokratischen Haltungen besonders groß erscheint, was insbesondere für die Großräume Paris und Marseille gilt. In der Simulation stellen Jugendliche sich vor, in ein einsames Bergdorf auszuwandern und dort miteinander auszuhandeln, wie sie leben, arbeiten und Entscheidungen treffen wollen. Gegenstand der Dorf-Debatten sind die konfliktauslösenden politischen Grundfragen nach Herrschaftsformen, Güterverteilung, der Rolle von Frauen, Gender und sexueller Orientierung, Migration und Sozialstaat, Kirche und Religion sowie Klimawandel, Strafe und Gewalt – allesamt typische gesellschaftliche „Triggerpunkte“. Die Simulation stellt Ideen zur friedlichen Lösung bereit und hilft den Schüler:innen, den Unterschied zwischen demokratischen und antidemokratischen Werten herauszuarbeiten. Welchen politischen Weg die Jugendlichen dabei als Individuen und Klassenkollektiv einschlagen, bleibt ihnen überlassen, wird ihnen jedoch als jeweilige Variante demokratischer versus antidemokratischer Grundorientierungen zurückgespiegelt.

Daraus ergeben sich unsere Forschungsfragen: 

  • 1) Wie lösen französische Jugendliche in Klassen mit rechtspopulistischen, islamistischen und anderen populistischen Einstellungen die Aufgabe, in einer Dorfgründungssimulation möglichst demokratischen Zusammenhalt politisch und ökonomisch herzustellen? Welche Werthaltungen und Konfliktlösungsstile (Politisierungstypen) können unterschieden werden? Woran lässt sich ggf. ein Zuwachs an Demokratiekompetenz festmachen?
  • 2) Welche kulturellen Besonderheiten ergibt ein Vergleich zwischen deutschen und französischen Argumentationsmustern?
  • 3) Welche kulturellen oder individuellen Unterschiede in der fachdidaktischen Adaption der Dorfgründung auf französische Bedingungen lassen sich feststellen und welche Schlussfolgerung können daraus für eine fachdidaktische deutsch-französische Kooperation gezogen werden?

Principal Investigators

Laufzeit, Themen- und Forschungsfelder

Laufzeit:

06/2024 - 05/2029

Praxispartner:innen

  • Institut National Supérieur du Professorat et de l’Éducation (INSPE) Paris und Aix-Marseille
  • Association des Professeurs d’Histoire et de Géographie, Paris
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