Forschungsprogramm „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Transformation“

Zweite Förderperiode (2024–2029) des FGZ

Zusammenhalt in der Krise?

In den letzten Jahren lässt sich eine ungewöhnlich hohe Taktung immer neuer Krisenerscheinungen beobachten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt erscheint dabei in einem doppelten Wortsinn herausgefordert: bedroht und zugleich gefragt als Ressource zu ihrer Bewältigung. Die Reaktionen der Beteiligten auf den beschleunigten Wandel zeigen sich im Spektrum von Affirmation, Kritik und Ablehnung. Hierbei erweisen sich die historisch tief verwurzelten Denkgewohnheiten und Handlungsroutinen als prekär. Es gibt für die akuten Krisenerscheinungen, kurz gesagt, kein Skript. Die Zuversicht, dass die Modernisierung voranschreitet und dass es eine bessere Zukunft geben kann, scheint zunehmend zu schwinden. Kann es „Zusammenhalt“ ohne einen solchen Richtungssinn geben? Kann „Zusammenhalt" selbst richtungsgebende Orientierung bieten?


Was ist „Zusammenhalt“? 

Das Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist, so zeigen unsere bisherigen Debatten, in seiner Verwendung analytisch oft unscharf und normativ ambivalent. Daraus ziehen wir eine doppelte Konsequenz:

  • Wir untersuchen Zusammenhalt in seiner Kombination aus Einstellungen, Praktiken, sozialen Beziehungen sowie institutionellen Strukturen und schließlich Diskursen, in denen Gesellschaften sich selbst thematisieren. Unser Konzept von Zusammenhalt ist somit gleichermaßen offen wie breit. Es erfasst die Vielfalt der empirisch vorfindbaren Diskurse und Strukturen des Zusammenhalts und es bildet verschiedene wissenschaftliche Zugänge interdisziplinär ab.
  • Es ist eine dringliche Aufgabe, eine normativ gehaltvolle Konzeption des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu entwickeln. Sie muss der Pluralität und dem konflikthaften Charakter demokratischer Gesellschaften Rechnung tragen. Das FGZ soll als Forum für eine solche kritische Diskussion dienen. Dies betrifft sowohl die wissenschaftliche Anschlussfähigkeit als auch die praktische Transfertauglichkeit einer solchen Konzeption.  

Die zu erarbeitende Konzeption demokratischen Zusammenhalts wird dabei als eine unter verschiedenen denkbaren Verständnissen gesellschaftlichen Zusammenhalts Verwendung finden. Anhand von Vergleichen erstellen wir Typologien dieser unterschiedlichen Vorstellungen von Zusammenhalt. Die länderübergreifenden Vergleiche beziehen sich auf nationale Gesellschaften und Weltregionen, aber auch verschiedene Formen von lokalem oder milieuspezifischem Zusammenhalt innerhalb von Gesellschaften.

Was sind unsere Leitfragen?

Die folgenden übergreifenden Leitfragen stehen im Zentrum unseres Forschungs- und Transferprogramms, die auch in ihren wechselseitigen Bezügen bearbeitet werden sollen:

  • Wie wird der gesellschaftliche Zusammenhalt in Zeiten der Transformation gefährdet? Aber auch: Wie wird Zusammenhalt unter diesen Herausforderungen wirksam?

  • Wann ist Zusammenhalt demokratisch? Wie und wodurch besteht demokratischer Zusammenhalt im weltweiten Vergleich und im Wettbewerb mit alternativen Konzeptionen?


Welche Themenfelder erforschen wir?

Wir bündeln die unterschiedlichen epistemischen und methodischen Zugänge zu diesen Fragen in der zweiten Förderphase in folgenden vier Themenfeldern: 

Themenfeld A: „Politik des demokratischen Zusammenhalts“

Themenfeld B: „Sozioökonomische Status- und Verteilungsordnungen“

Themenfeld C: „Infrastrukturen und öffentliche Güter“

Themenfeld D: „Kulturelle Dynamiken des Zusammenhalts"


In seiner ersten Förderphase (2020-2024) wurden am FGZ 109 Forschungs- und Transferprojekte durchgeführt, die drei verschiedenen Forschungsclustern zugeordnet waren.
 

Gesellschaftlicher Zusammenhalt – ein umstrittener Begriff mit zahlreichen Verwendungsweisen

„Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ ist ein analytisch wie normativ umstrittener Begriff. Diese Eigenschaft teilt er mit vielen neuzeitlichen Leitkonzepten sozialer Ordnung. Er ist deshalb nicht umstandslos als wissenschaftliche Kategorie zu verwenden, sondern muss auf seine Verwendungsweisen hin analysiert werden: Was verstehen Menschen in unterschiedlichen sozialen Gruppen, Milieus, Räumen, Institutionen, Ländern und Epochen unter gesellschaftlichem Zusammenhalt? Wie „leben“ sie ihn in ihren Praktiken? Finden wir eine übergreifende Gemeinsamkeit oder Ähnlichkeit in den Vorstellungen, Praktiken und sozialräumlichen Modellen gesellschaftlichen Zusammenhalts – oder variieren diese nach bestimmten räumlichen und Gruppenzugehörigkeiten, bis hin zu miteinander unvereinbaren Werteordnungen? In welchem Zusammenhang steht dies mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen? Wie kann in der Zusammenführung solcher Perspektiven gesellschaftlicher Zusammenhalt theoretisch – sowohl normativ als auch analytisch – gehaltvoll bestimmt und gegebenenfalls auch empirisch operationalisiert, beschrieben und gemessen werden?

Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Forschungsheuristik

Gesellschaftlicher Zusammenhalt bezieht sich seinen Verwendungsweisen folgend auf Gemeinwesen, deren Mitglieder über positive Einstellungen zueinander und zu ihrem Gesamtkontext verfügen, in dem sie als Handelnde in Praktiken und Beziehungen involviert sind, die einen Gemeinschaftsbezug haben und sich in komplexe institutionelle Prozesse der Kooperation und Integration einfügen, die von den Gesellschaftsmitgliedern thematisiert und evaluiert werden. Zusammenhalt existiert dort, wo diese Ebenen eine bestimmte Qualität aufweisen und hinreichend (was ebenfalls näher zu bestimmen ist) übereinstimmen – in den Einstellungen, Handlungen, Beziehungen, Institutionen und Diskursen innerhalb einer Gesellschaft.

Diese Arbeitsdefinition dient dazu, die Aspekte und Konstitutionsbedingungen von Zusammenhalt (als Zustand oder Prozess) zu differenzieren und in einem Zusammenspiel unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden untersuchen zu können. Sie ist normativ neutral gehalten, da sie weder festlegt, welcher Art die geforderten Einstellungen sind und welche Quellen diese haben, noch vorbestimmt, wie stark und explizit der Gemeinschaftsbezug der relevanten Praktiken ist und welche Form sozialer Kooperation und Integration hinreicht, um von Zusammenhalt zu sprechen. Dies heißt jedoch nicht, dass nicht unterschiedliche normative Vorstellungen von Zusammenhalt, die in der Gesellschaft anzutreffen sind und einander gegebenenfalls widerstreiten, Gegenstand der Untersuchungen sind; und es heißt auch nicht, dass – auch hinsichtlich des Transfers in die Praxis – die Forscher:innen des FGZ sich keine normativen Positionen zum Zusammenhalt in einer modernen Demokratie zutrauen. Sie sind sich aber dessen bewusst, dass dies ein eigens auszuweisender, methodisch zu reflektierender Schritt ist.

Leitfragen und Forschungsschwerpunkte des FGZ

Aus den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten zum Komplex sozialer Zusammenhalt ergeben drei unterscheidbare Problemperspektiven, die sich in den Leitfragen und Forschungsschwerpunkten des FGZ wiederfinden: Was ist gesellschaftlicher Zusammenhalt? Was erzeugt und was gefährdet gesellschaftlichen Zusammenhalt? Wie wirkt gesellschaftlicher Zusammenhalt? Wie variieren gesellschaftlicher Zusammenhalt und seine diskursive Produktion historisch und regional? Das FGZ setzt seinen ersten Schwerpunkt auf begriffliche und theoretische Fragen vor dem Hintergrund der sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen liberaler Demokratien. Zweitens untersucht es die Entstehungsbedingungen und Gefährdungen gesellschaftlichen Zusammenhalts sowie seine Auswirkungen auf politische, sozioökonomische und kulturelle Strukturen und Prozesse. Im dritten Forschungsschwerpunkt werden schließlich die Lösungsversuche liberal-demokratischer Gegenwartsgesellschaften für das Problem gesellschaftlichen Zusammenhalts mit historischen Vorläufersituationen verglichen. Hier wird nach den globalen Kontexten und Verflechtungen dieser Zusammenhaltsvorstellungen gefragt.

Forschungsstruktur

In seiner ersten Förderphase (2020-2024) sind unter dem Dach des FGZ sind 109 Forschungs- und Transferprojekte versammelt, die sich mit unterschiedlichen Aspekten gesellschaftlichen Zusammenhalts beschäftigen. Dabei gehen sie den Leitfragen des Instituts nach Begriff, Entstehungsbedingungen, Gefährdungen und Wirkungen gesellschaftlichen Zusammenhalts aus einer Vielzahl disziplinärer und methodischer Perspektiven nach. Diese thematische, disziplinäre und methodische Pluralität der Forschungsvorhaben ist eine besondere Stärke des FGZ, die sich aus der Integration von elf Standorten mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu einem Institut ergibt. Gleichzeitig stellt sie das FGZ jedoch vor die Herausforderung, seine Forschungsaktivitäten so miteinander zu verkoppeln, dass das besondere Erkenntnispotential interdisziplinärer Forschung für die gemeinsame Arbeit an den Leitfragen des Instituts genutzt werden kann. Im FGZ wird diese Funktion durch drei aufeinander bezogene Forschungscluster sowie eine Sequenz von thematischen Leitfragen für die Jahrestagungen des Instituts gewährleistet.

Die Forschungscluster

Die drei Cluster sind interdisziplinär angelegt. Sie arbeiten zwar jeweils zu allen Leitfragen des Instituts, setzen jedoch unterschiedliche Schwerpunkte. Den drei verschiedenen Clustern kommen in der Struktur des FGZ drei zentrale Funktionen zu: Erstens bieten sie Foren an, die durch regelmäßige Veranstaltungen den systematischen Austausch zwischen den Forschenden an den verschiedenen Standorten ermöglichen. Zweitens dienen sie als Inkubatoren, die die Plattform und organisatorischen Ressourcen für standortübergreifende Publikations- und Transferprojekte bieten. Drittens sind die Cluster Kompressoren, die die Forschungsergebnisse der Einzelprojekte zu den Leitfragen des Instituts bündeln, verdichten und schließlich in die Diskussion des Gesamtinstituts – etwa im Rahmen der Jahrestagungen – einspeisen. Die Cluster werden jeweils von einem der koordinierenden Standorte organisiert und von der zentralen Forschungskoordination unterstützt und begleitet. Innerhalb jedes Clusters sind mehrere Forschungsfelder angesiedelt, die Projekte mit ähnlichen thematischen Schwerpunkten versammeln.

Weitere Informationen zu den Forschungsclustern:

Cluster 1

Cluster 2

Cluster 3