In Phasen tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen können soziale Spaltungen und Konflikte zunehmen. Gleichzeitig entstehen aber auch neue solidarische Bündnisse und Praktiken mit denjenigen, die von Marginalisierung betroffen sind. Das Arbeitspaket erforscht und vergleicht die Entwicklung solidarischer Praktiken in Deutschland, Frankreich und Polen. Dabei betrachten wir Arbeitskämpfe seit 1970 und die verstärkte Einwanderung seit 2015.
Das Arbeitspaket untersucht neue Formen des Zusammenhalts, die dann entstehen, wenn Menschen solidarisch handeln, sich also ganz praktisch für ihre Mitmenschen und für eine gemeinsame Sache einsetzen. In vielfältigen Gesellschaften bildet dieses Solidarisch-Werden eine notwendige Voraussetzung dafür, dass sich Allianzen zwischen Ungleichen bilden können.
Wir konzentrieren uns auf solidarischen Praktiken in und mit marginalisierten Milieus. Dies geschieht im Kontext großer gesellschaftlicher Umbrüche, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Wir fragen danach, wie marginalisierte Bevölkerungsgruppen Zusammenhalt trotz oder gerade wegen Marginalisierung erleben und herstellen. Wir untersuchen diese Frage im europäischen Vergleich anhand von Beispielen:
- Arbeitskämpfe in der BRD und Frankreich in den 1970er Jahren
- Arbeitskämpfe in Ostdeutschland nach 1989 und im Polen der 1980er und 1990er Jahre
- Migrations- und Solidaritätsbewegungen seit dem sogenannten langen Sommer der Migration 2015.
Wir beobachten konkrete Alltagspraktiken vor Ort und werten Erzählungen und Dokumente aus. Dies hilft uns, die Dynamik solidarischer Prozesse zu verstehen. Wir vergleichen die Protest- und Organisationsformen in Arbeitskämpfen und Migrationsbewegungen. Dabei zeigen wir ihre Besonderheiten auf und identifizieren Faktoren für das Gelingen oder Scheitern von Solidarität.
Transferaktivitäten
Wir möchten unsere Forschung auch einem nicht akademischen Publikum zugänglich machen. Wir entwickeln das bestehende öffentliche Webportal Solidaritaetsgeschichten.de zu einer transeuropäischen Plattform. Hier erzählen Menschen ihre persönlichen Geschichten von Solidarität und Zusammenhalt in Krisen- und Umbruchsituationen. Zusätzlich bieten wir verschiedene Austauschformate an: Erzählsalons, Social-Media-Kommunikation, Podcasts und Ausstellungen.
Inhalte des Arbeitspakets
Während der Umgang mit (tatsächlicher oder vermeintlicher) Marginalisierung häufig von Rückzug oder regressiver Revolte (exit) geprägt ist, widmet sich das im zweiten Schwerpunkt des Themenfelds angesiedelte Arbeitspaket (AP) solidarischen Praktiken in und mit marginalisierten Milieus. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie marginalisierte Bevölkerungsgruppen Zusammenhalt trotz oder gerade wegen Marginalisierung erleben und herstellen (voice), und wie sie dabei mit Erwartungshaltungen seitens der Dominanzkultur und ihrer Institutionen umgehen (loyalty).
Konkret wird im Kontext gesellschaftlicher Transformationsphasen in Vergangenheit und Gegenwart – Arbeitskämpfe im Gefolge der Deindustrialisierung und Migrationsbewegungen – untersucht, welche solidarischen Praktiken (neue) Formen des Zusammenhalts ermöglichen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Zusammenhalt u.a. Effekt solidarischer Praktiken ist, die in spezifischen Milieus oder Bewegungen entstehen und beobachtbar sind. Dieser gewissermaßen situierte Zusammenhalt kann gleichzeitig auf Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenhalt als solchem zurückwirken. Im Zentrum der Forschung stehen Konjunkturen von Arbeitskämpfen und Migrationsbewegungen: Arbeitskämpfe in der BRD und Frankreich während der 1970er Jahre, an denen migrantische Arbeiter:innen federführend beteiligt waren; Arbeitskämpfe in der ehemaligen DDR nach 1989 und im Polen der 1980er und 1990er Jahre; schließlich die Migrations- und Solidaritätsbewegungen seit dem sogenannten langen Sommer der Migration 2015, die sich in Deutschland, Frankreich und Polen auf unterschiedliche Weise ausgewirkt bzw. konstituiert haben. Insgesamt rücken solidarische Praktiken in den Blick, die auf transnationale Dynamiken und Austauschprozesse verweisen.
Ein Anliegen ist es, Themen und Forschungsbereiche systematisch miteinander zu verknüpfen, die meist als voneinander getrennt wahrgenommen werden bzw. als jeweils eigenständige Subdisziplinen existieren: Forschungen zu Arbeitskämpfen nehmen kaum Bezug auf migrantische Kämpfe, wie auch Forschungen zu Migrationsbewegungen sich kaum auf Proteste von Arbeiter:innen beziehen. Indem das AP die übergeordnete Frage nach solidarischen Praktiken aufwirft, bezieht es Arbeitskämpfe und Migrationsbewegungen aufeinander, was auch impliziert, Überschneidungen zwischen den jeweiligen Protest- und Organisationsformen und ebenso deren spezifische Eigenheiten zu thematisieren. Somit werden Bedingungen des (Nicht-)Gelingens von solidarischen Praktiken in den Blick genommen, im Rahmen einer historisch-vergleichenden wie transnationalen Perspektive.
Ein weiteres Anliegen besteht darin, Solidarität ausgehend von konkreten sozialen Praktiken zu thematisieren. Es geht folglich um Erfahrungen mit dem, was sich als eine Art des Solidarisch-Werdens im Alltag bezeichnen ließe, wobei dieses Solidarisch-Werden als eine Voraussetzung für Allianzen zwischen Ungleichen im Hinblick auf Geschlecht, Herkunft, sozio-ökonomischen Status usw. in zunehmend pluralen Gesellschaften verstanden wird. In diesem Sinne ergänzt und erweitert das AP ideen- und begriffsgeschichtliche sowie philosophische Auseinandersetzungen mit Solidarität, auch durch die Betonung des Eigensinns der Akteur:innen.