Solidarische Praktiken in gesellschaftlichen Transformationsprozessen
B_07 – Projekt des FGZ Berlin – Projekt des FGZ Konstanz
Während der Umgang mit (tatsächlicher oder vermeintlicher) Marginalisierung häufig von Rückzug oder regressiver Revolte (exit) geprägt ist, widmet sich das im zweiten Schwerpunkt des Themenfelds angesiedelte Arbeitspaket (AP) solidarischen Praktiken in und mit marginalisierten Milieus. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie marginalisierte Bevölkerungsgruppen Zusammenhalt trotz oder gerade wegen Marginalisierung erleben und herstellen (voice), und wie sie dabei mit Erwartungshaltungen seitens der Dominanzkultur und ihrer Institutionen umgehen (loyalty).
Konkret wird im Kontext gesellschaftlicher Transformationsphasen in Vergangenheit und Gegenwart – Arbeitskämpfe im Gefolge der Deindustrialisierung und Migrationsbewegungen – untersucht, welche solidarischen Praktiken (neue) Formen des Zusammenhalts ermöglichen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Zusammenhalt u.a. Effekt solidarischer Praktiken ist, die in spezifischen Milieus oder Bewegungen entstehen und beobachtbar sind. Dieser gewissermaßen situierte Zusammenhalt kann gleichzeitig auf Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenhalt als solchem zurückwirken. Im Zentrum der Forschung stehen Konjunkturen von Arbeitskämpfen und Migrationsbewegungen: Arbeitskämpfe in der BRD und Frankreich während der 1970er Jahre, an denen migrantische Arbeiter:innen federführend beteiligt waren; Arbeitskämpfe in der ehemaligen DDR nach 1989 und im Polen der 1980er und 1990er Jahre; schließlich die Migrations- und Solidaritätsbewegungen seit dem sogenannten langen Sommer der Migration 2015, die sich in Deutschland, Frankreich und Polen auf unterschiedliche Weise ausgewirkt bzw. konstituiert haben. Insgesamt rücken solidarische Praktiken in den Blick, die auf transnationale Dynamiken und Austauschprozesse verweisen.
Ein Anliegen ist es, Themen und Forschungsbereiche systematisch miteinander zu verknüpfen, die meist als voneinander getrennt wahrgenommen werden bzw. als jeweils eigenständige Subdisziplinen existieren: Forschungen zu Arbeitskämpfen nehmen kaum Bezug auf migrantische Kämpfe, wie auch Forschungen zu Migrationsbewegungen sich kaum auf Proteste von Arbeiter:innen beziehen. Indem das AP die übergeordnete Frage nach solidarischen Praktiken aufwirft, bezieht es Arbeitskämpfe und Migrationsbewegungen aufeinander, was auch impliziert, Überschneidungen zwischen den jeweiligen Protest- und Organisationsformen und ebenso deren spezifische Eigenheiten zu thematisieren. Somit werden Bedingungen des (Nicht-)Gelingens von solidarischen Praktiken in den Blick genommen, im Rahmen einer historisch-vergleichenden wie transnationalen Perspektive.
Ein weiteres Anliegen besteht darin, Solidarität ausgehend von konkreten sozialen Praktiken zu thematisieren. Es geht folglich um Erfahrungen mit dem, was sich als eine Art des Solidarisch-Werdens im Alltag bezeichnen ließe, wobei dieses Solidarisch-Werden als eine Voraussetzung für Allianzen zwischen Ungleichen im Hinblick auf Geschlecht, Herkunft, sozio-ökonomischen Status usw. in zunehmend pluralen Gesellschaften verstanden wird. In diesem Sinne ergänzt und erweitert das AP ideen- und begriffsgeschichtliche sowie philosophische Auseinandersetzungen mit Solidarität, auch durch die Betonung des Eigensinns der Akteur:innen.