A_08 Demokratische Partizipation in der Arbeitswelt zwischen Kompromiss und Konflikt
Standorte: | Göttingen |
Fachdisziplinen: | Soziologie |
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Abstract
Die Sozialpartnerschaft im Rahmen von Mitbestimmung und Tarifpolitik gilt als Erfolgsmodell. Sie hilft, potenziell konfliktträchtige Dynamiken in der Arbeitswelt einzudämmen. So sichert sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das Arbeitspaket untersucht, wie belastbar diese Strukturen angesichts multipler Krisen und Transformationen noch sind.
Mitbestimmung und Tarifpolitik stehen derzeit vor zwei zentralen Herausforderungen:
- Wir beobachten eine Erosion traditioneller Beteiligungsformen. Dies zeigt sich am Rückgang des Anteils von Unternehmen mit Betriebsräten. Auch die abnehmende Tarifbindung sowie schrumpfenden Mitgliederzahlen bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sind Anzeichen dafür.
- Die Arbeitswelt ist derzeit mit tiefgreifenden Krisen- und Transformationsprozessen konfrontiert. Entwicklungen wie die Dekarbonisierung, der demografische Wandel, die Digitalisierung oder steigende Energiepreise erzeugen ungleich verteilte Risiken und Chancen. Dies führt zu Spannungen, sozialen Verwerfungen und Protesten. Die verschiedenen Beschäftigtengruppen und Branchen sind dabei unterschiedlich stark betroffen.
Vor diesem Hintergrund untersuchen wir, ob und unter welchen Bedingungen kollektive Arbeitsbeziehungen weiterhin zur Stärkung des demokratischen Zusammenhalts beitragen. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wie es gelingt, Interessenkonflikte in der Arbeitswelt in stabile Kompromisse zu überführen.
Um diese Fragen zu beantworten, verfolgen wir einen zweigleisigen Forschungsansatz:
- Erstens analysieren wir Konfliktfälle auf Unternehmens- und Branchenebene. Diese spiegeln exemplarisch die Herausforderungen des derzeitigen Umbruchs wider.
- Zweitens führen wir Expertengespräche zu den Problemsichten, Strategien und Handlungskonzepten von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Politik. Die Fallstudien und Interviews werden von Austauschforen begleitet. Hier kommen Vertreter*innen der verschiedenen Akteursgruppen zusammen, um die Forschungsergebnisse zu diskutieren. Das Ziel ist es, die praktische Anwendbarkeit der Erkenntnisse zu prüfen und Handlungsempfehlungen zu entwickeln.
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Das Arbeitspaket (AP) untersucht gemeinsam mit und komplementär zu A_06 und A_07, welchen Beitrag unterschiedliche zivilgesellschaftliche Partizipationsformen zwischen voice, exit und loyalty für den demokratischen Zusammenhalt leisten. Dabei befasst es sich mit den kollektiven Arbeitsbeziehungen als einer zentralen Säule organisierter Zivilgesellschaft und somit mit den Institutionen und Praktiken wirtschaftsdemokratischer Partizipation und deren Spezifik.
Im Mittelpunkt des AP steht die Frage, inwieweit und unter welchen Bedingungen die kollektiven Arbeitsbeziehungen weiterhin in der Lage sind, ihren Beitrag für den demokratischen Zusammenhalt zu leisten, indem sie Interessenkonflikte in der Arbeitswelt im Rahmen sozialpartnerschaftlicher Arrangements in anerkannte und stabile Kompromissgleichgewichte überführen.
Der Tarifautonomie und der Betriebsverfassung als den beiden zentralen Institutionen des deutschen Systems der Arbeitsbeziehungen wird in der Arbeitssoziologie ein zentraler Stellenwert für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zugewiesen. Indem sie Arbeitskonflikte in konstruktive Bahnen lenken und gesellschaftliche Kompromissbildungen erleichtern, haben sie die Bearbeitung von Klassenkonflikten institutionalisiert und damit zu deren Pazifizierung beigetragen. Die auf soziale Befriedung und Integration ausgerichteten institutionellen Praktiken des „deutschen Modells“ werden begrifflich als „Sozialpartnerschaft“, als „Konfliktpartnerschaft“ oder unter dem Blickwinkel der Einbindung der Akteure der Arbeitsbeziehungen in staatlich-politische Problemlösungen auch als „Neokorporatismus“ gefasst. Das AP schließt damit an ein konflikttheoretisches Konzept gesellschaftlichen Zusammenhalts an, das die Bedeutung geregelter und produktiver Formen der Konfliktaustragung zur Einhegung potenziell zusammenhaltsgefährdender gesellschaftlicher Konfliktdynamiken betont.
Der kontinuierliche Rückgang des Deckungsgrads von Betriebsräten und der Tarifbindung sowie der Mitgliedszahlen der DGB-Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verweist auf eine längerfristige Krise und Erosion institutionalisierter Partizipationsformen der Arbeitswelt verbunden mit einer Ausweitung von Zonen ohne Tarifbindung und etablierten Arbeitnehmervertretungsstrukturen. Zugleich bilden sich Organisationen heraus, die sich als Alternativen zu den etablierten Gewerkschaftsstrukturen verstehen, die im geringeren Maß gesellschaftlich integrativ ausgerichtet sind (wie Sparten oder Berufsgewerkschaften) oder die wie das sich selbst als alternative Gewerkschaft bezeichnende „Zentrum“ antidemokratische Tendenzen aufweisen.
Die Arbeitswelt ist zudem ein zentrales Feld gesellschaftlicher Transformation. Hieraufhin deuten Anforderungen der Dekarbonisierung der Industrie, der demographische Wandel der Erwerbstätigen, die rasch voranschreitende Digitalisierung der Arbeits- und Wertschöpfungsprozesse sowie die Unsicherheiten der Märkte und Lieferketten angesichts neuer geopolitischer Konstellationen. Die Transformation ist verbunden mit weitreichenden Auswirkungen auf Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, mit auf Beschäftigtengruppen, Tätigkeitsbereichen und Branchen ungleich verteilten Chancen und Risiken und mit sozialen Verwerfungen, die ein Prozess „schöpferischer Zerstörung“ stets mit sich bringt. Denkbar ist, dass sich dadurch die Konfliktachsen im Feld betrieblicher, tariflicher und tripartistischer Interessenpolitik verändern und sich politische Polarisierungen verstärken werden.
Vor diesem Hintergrund institutioneller Erosion und arbeitsweltlicher Transformation stellt sich die Frage,
- a) inwiefern und auf welche Weise sich neue Konfliktkonstellationen und sich verschärfende Konfliktdynamiken herausbilden;
- b) inwiefern, wie und unter welchen Bedingungen die Institutionen kollektiver Arbeitsbeziehungen ihre kooperativen Konfliktlösungs- und Kompromissbildungsfähigkeiten aufrechterhalten können und
- c) wo Grenzen, Bruchlinien und zusammenhaltsgefährdende Effekte gesellschaftlicher Desintegration und Exklusion sichtbar werden.
In zeitdiagnostischer Absicht zielt die Untersuchung letztlich darauf, eine empirisch gesättigte Antwort auf die Frage zu geben, ob und unter welchen Bedingungen das deutsche Institutionensystem der Arbeitsbeziehungen in der Lage ist, in Zeiten multipler Krisen und Transformationen die ihm zugeschriebene soziale Befriedungs- und Integrationsfunktion auf der Ebene von Unternehmen, Branchen und Gesellschaft weiterhin zu erfüllen.
Principal Investigators
Dr. Stefan Rüb
Laufzeit, Themen- und Forschungsfelder
Laufzeit:
06/2024 – 05/2029
