Digitale Öffentlichkeiten und ambivalente Teilhabe. Nicht-Aufmerksamkeit als Modus gesellschaftlichen Zusammenhalts
KON_F_06 – Konstanz
Zielsetzung / Fragestellung
Aufmerksamkeit stellt seit dem 20. Jahrhundert ein Schlüsselkonzept dar, mithilfe dessen das Entstehen von Öffentlichkeiten weit über die Spezialdiskurse der Wissenschaft und des Journalismus hinaus erklärt wird. Im Kontext digitaler sozialer Medien spitzen sich diese Erklärungsansätze insofern zu, dass auch Nicht-Aufmerksamkeit zu einem normativen Beteiligungsmodell erhoben wird. Es wird eingefordert, Inhalte nicht zu teilen, um bestimmten Akteuren keine Bühne zu bieten, die Verbreitung von Desinformationen zu regulieren oder zu vermeiden, dass wichtigere Themen verdrängt werden. Öffentlichkeiten sind so verstanden das Ergebnis positiver und negativer Aufmerksamkeitsbeteiligung, und die Modulation kollektiver Aufmerksamkeit wird über einen journalistischen Berufsethos hinaus zu einer Handlungsmaxime einzelner Mediennutzer*innen verallgemeinert. Häufig integriert eine so verstandene digitale Aufmerksamkeitsethik auch das Wissen um algorithmische Intermediäre, affektive Diskursstrategien und soziale Emergenzdynamiken. Das Projekt fragt daher zum einen nach den soziotechnischen Spezifika, die diese digitale Aufmerksamkeitsethik auszeichnen. Zum anderen nimmt es in den Blick, wie ältere strukturelle Beschreibungen von Öffentlichkeit dadurch transformiert werden, etwa die Unterscheidung von Publikum einerseits und öffentlicher Gewalt als Kontrollinstanz andererseits.
Im Kontext sozialer Medien ist öffentliche Kontrolle theoretisch auf viele Nutzer*innen verteilt, die damit zugleich an der Konstitution eines Publikums teilhaben. Ferner bezieht sich die öffentliche Kontrolle nicht mehr bloß auf staatliches Handeln, sondern auch auf die Funktionsweise privatwirtschaftlicher Algorithmen, auf die inhaltliche Prüfung veröffentlichter Inhalte und somit auf die Herstellung von kontroversen Publika selbst. Problematisch wird diese Ko-Konstitution von Kontroll- und Publikums-Öffentlichkeit in Bezug auf persönliche Handlungsskripte unter anderem dort, wo öffentliche Kontrolle ausgeübt werden soll, ohne über Gebühr Aufmerksamkeit für bestimmte Inhalte zu erzeugen, zum Beispiel im Fall von terroristischen Anschlägen, konzertierter Desinformation oder Hate Speech. Vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen und Expert*innen haben sich in den letzten Jahren als neue Infrastrukturen für diese Schnittstelle von Publikum und öffentlicher Kontrolle herausgebildet, die neben Journalist*innen und innerhalb privatwirtschaftlicher Plattformordnungen operieren. Die Hypothese des Projekts lautet, dass sich an und mit diesen neuen Akteuren die Ambivalenz von Aufmerksamkeit als (gesellschaftlicher) Beteiligungsmodus am prägnantesten studieren lässt.
Primäres Ziel des Forschungsprojektes ist es, der konfliktären Rolle und diskursiven Problematisierung von Nicht-Aufmerksamkeit im Alltag sozialer Mediennutzer*innen nachzuspüren. Dafür kommen neben traditionellen und digitalen ethnografischen Methoden auch diskursanalytische Werkzeuge zum Einsatz. Darüber hinaus reflektiert das Forschungsprojekt den normativen und zusammenhaltssensiblen Status von Aufmerksamkeit in zeitgenössischen geisteswissenschaftlichen Methoden und Modellen. Aufmerksamkeit findet sich hier zum Beispiel im ethnografischen Einstimmen auf situative Gemengelagen, im theoretischen Zugriff auf das Erkennen von Affekten bis hin zu einer aisthetischen Ethik der Anerkennung. Der unterschiedliche Zugriff auf Aufmerksamkeit in diesen Theorien und in den Alltagspraktiken sozialer Mediennutzer*innen lässt sich, so unsere Annahme, in ein heuristisch produktives Spannungsverhältnis setzen, um den zeitgenössischen Geltungsbereich von Aufmerksamkeit als gesellschaftlichen Beteiligungsmodus besser zu verstehen.
Thematischer Bezug zu gesellschaftlichem Zusammenhalt
Der Zusammenhalt hochgradig differenzierter Gesellschaften ist auf Medien und Öffentlichkeiten unterschiedlicher Art angewiesen, welche die Interaktion zwischen verschiedenen sozialen Netzwerken ermöglichen und auf Dauer stellen. Medien und Öffentlichkeiten gehen diesen Interaktionen und der Differenzierung von Netzwerken nicht voraus, indem sie als unabhängige Mittler außerhalb sozialer Ordnung stehen. Vielmehr sind sie Teil jener Bewegung, in der sich soziale Strukturen stabilisieren und koordinieren und neben Differenzen auch Zusammenhalt herausbilden. Das wird umso deutlicher, wenn Medien und Öffentlichkeiten nicht substanziell und als voneinander getrennt betrachten werden, sondern wir unseren Blick auf die je verschiedene Medialität des Veröffentlichens wenden. Veröffentlichungspraktiken bzw. das Herstellen von Öffentlichkeit bedarf bestimmter materieller und operationaler Infrastrukturen, die in fortwährenden Stabilisierungsprozessen ausgehandelt, gepflegt und aufrechterhalten werden müssen. Die Thematisierung von Aufmerksamkeit ist Teil dieses infrastrukturellen Prozesses, insofern sie Handlungsnormen und Erklärungsansätze für die (Selbst)Beobachtung von Veröffentlichungspraktiken bereitstellt.
Während die Relevanz von Aufmerksamkeit für die Beobachtung von Öffentlichkeiten und Veröffentlichungsstrategien lange Zeit auf einzelne Berufsfelder (etwa den Journalismus) oder spezifische Mediennutzungskontexte beschränkt war, ist sie als Erklärungsfigur inzwischen weitestgehend verallgemeinert. Der historische Prozess einer Pluralisierung und Fragmentierung von Öffentlichkeiten scheint demnach mit einer Generalisierung von Aufmerksamkeit als Erklärungsansatz verbunden und wirkt sich auch auf die Beschreibung gesellschaftlichen Zusammenhalts aus. Sich mit den Veröffentlichungspraktiken und Aufmerksamkeitsmechanismen sozialer Medien auszukennen, dosiert und reflektiert damit umzugehen, scheint mithin als soziale Kompetenz verhandelt zu werden. Vermittelt über die immerwährende und prekäre Konstitution von Öffentlichkeiten ist Aufmerksamkeit zu einer Variablen und Technik gesellschaftlichen Zusammenhalts geworden.
Prof. Dr. Isabell Otto
Projektmitarbeiter:innen
Dr. Steffen Krämer
:
09 / 2020 – 05 / 2023:
- Cluster 1: Theorien, Politiken und Kulturen des Zusammenhalts
- C1: Demokratie und Öffentlichkeit
- Cluster 2: Strukturen, Räume und Milieus des Zusammenhalts
- C2: Medien und Kommunikation
- Cluster 3: Historische, globale und regionale Varianz des Zusammenhalts
- C3: Gesellschaftlicher Zusammenhalt im diachronen Vergleich
Can AI Detect Hate? Technological Imaginations and the Problem of Extreme Speech
Kulturzentrum am Münster Wessenbergstraße 43 78462 Konstanz
Workshop Affektive Rede & Soziale Figuration
Kulturzentrum am Münster Wessenbergstr. 43 78462 Konstanz