Milieukonflikte um den gesellschaftlichen Zusammenhalt
B_01 – Projekt des FGZ Bremen
Im Kontext des ersten Schwerpunkts des Themenfelds B werden in diesem Arbeitspaket (AP) die Effekte sozioökonomischer und kultureller Spaltungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt mit dem Konzept sozialer Milieus untersucht. Dabei unterziehen wir die These eines „Auseinanderdriftens der Gesellschaft“ einer systematischen sozialwissenschaftlichen Überprüfung aus der Perspektive sozialer Gruppen. Mit der Untersuchung von Milieukonflikten trägt das AP zur Untersuchung der Frage bei, wie ein Zusammenhalt unter Ungleichen – im Sinne sozialer, ökonomischer und kultureller Unterschiede – möglich ist. Dabei nehmen wir an, dass sich der Zusammenhalt innerhalb von sozialen Milieus konzeptionell vom Zusammenhalt zwischen sozialen Milieus unterscheidet. Während ersterer über die „Ingredienzen“ von Sozialintegration erfasst werden kann, geht es bei letzterem auch um Interessensausgleich und -kompromisse sowie um wechselseitige Anerkennung und Verständigung.
Soziale Milieus sind latente Großgruppen, die sich in ihren sozialstrukturellen Lagen und grundlegenden Werten ähneln und je spezifische Formen des Zusammenhalts kultivieren. Aus der Überlagerung ökonomischer, sozialer und kultureller Ungleichheiten und ihrer Verdichtung in sozialen Milieus ergibt sich ein Konfliktpotential, das umso größer ist, je stärker sich die jeweiligen Milieus unterscheiden, voneinander abgrenzen und versuchen, ihre Praktiken und Vorstellungen als hegemoniales Modell des gesellschaftlichen Zusammenhalts durchzusetzen. Gestalt und Ausmaß solcher Milieukonflikte über das „richtige“ Modell gesellschaftlichen Zusammenhalts beeinflussen zudem, inwiefern Zusammenhalt als Ressource zur Bewältigung gesellschaftlicher Transformationen zur Verfügung steht (loyalty) oder ob sich Spaltungen und Polarisierungen vertiefen (voice), die schließlich in eine Abwendung einzelner Milieus von über- greifenden gesellschaftlichen Zielen münden können (exit).
Die übergreifende Fragestellung nach einem Zusammenhalt unter Ungleichen konkretisiert sich folgendermaßen:
Konflikthafte Milieudifferenzierungen und gesellschaftliche Transformation: Hier wird untersucht, wie milieuspezifische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Zusammenhalts mit gesellschaftspolitischen Orientierungen zusammenhängen und sich in unterschiedlichen Präferenzen über die Bewältigung gesellschaftlicher Krisen und Transformationsprozesse niederschlagen. Konkret untersuchen wir Konfliktpotentiale zwischen sozialen Milieus entlang politischer Spaltungen (Cleavages), mit Blick auf die sozial- ökologische Transformation (Klimabewusstsein/Umweltver- halten), die Geschlechterordnung (Kooperation mit APB_02) sowie die postmigrantische Gesellschaft (Einstellungen zu Migration und Integration).
Beziehungen zwischen Milieus und Gruppenbewertung: Zweitens geht es um Segmentierung und sozialen Schließung zwischen Milieu sowie um die Bewertung sozialer Gruppen. Es wird untersucht, inwiefern die sozioökonomische Verteilungsordnung die Bewertung sozialer Gruppen beeinflusst und ob Kontakt zwischen statusungleichen Gruppen zu einem besseren wechselseitigen Verständnis führen kann und zusammenhaltstärkende Effekte hat.
Kontextvariation und Entwicklungsdynamiken: Wenngleich das Milieumodell zunächst als Großgruppendifferenzierung im nationalstaatlichen Kontext konzipiert ist, lässt es sich auch für tiefere Differenzierungen, etwa nach Ost/West, Migrationsgeschichte oder Lebensphasen/Alter (Jugendmilieus), nutzen. Länder- und Zeitvergleiche erlauben außerdem die Analyse von Zusammenhängen zwischen Milieukonflikten und Zusammenhaltsindikatoren (z.B. Vertrauen, Demokratiezufriedenheit oder politische Stabilität) zwischen unterschiedlichen nationalen Kontexten und zu verschiedenen Zeitpunkten (z.B. verschiedene Krisen).