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Gesundheitsversorgung marginalisierter Gruppen als Indikator gesellschaftlichen Zusammenhalts

BIE_F_10 – Bielefeld

Zielsetzung / Fragestellung

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist nicht nur ein verfassungsmäßig verbürgtes Menschenrecht (GG, Art. 2, Abs. 2). Die körperliche und geistige Gesundheit kann auch als eine der grundlegendsten Voraussetzungen für ein funktionierendes gesellschaftliches Miteinander im Allgemeinen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Speziellen gelten (z.B. Thoits, 2011; Marmot et al., 2012). So würden Menschen durch das systematische Vorenthalten von Gesundheitsversorgung nicht nur ganz individuell von einem Grundbedürfnis abgeschnitten und von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Eine oft befürchtete und kontrovers diskutierte „Mehrklassen-Medizin“ kann auch als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts verstanden werden, wenn Grenzen zwischen sozialen Gruppen gezogen oder verstärkt werden. Bezeichnenderweise identifizierte zuletzt die European Social Cohesion Platform des Europarats den Zugang schutzbedürftiger Gruppen zu sozialen Grund- und Teilhaberechten sowie die Auswirkungen ökonomischer Krisen auf die Gesundheitsversorgung und in diesem Kontext insbesondere den Kampf gegen Armut und Exklusion, als aktuelle Gefährdungen des sozialen Zusammenhalts. Schließlich ist Gesundheitsversorgung immer auch in politische, kulturelle und ökonomische Makrostrukturen eingebettet, die bei entsprechenden Analysen zu berücksichtigen sind. Der Zusammenhalt in einer Gesellschaft, so lautet zugespitzt die grundlegende These des Forschungsprojekts, lässt sich auch daran messen, wie gut der Zugang marginalisierter Gruppen zur Gesundheitsversorgung sichergestellt ist.

Das Projekt soll daher untersuchen, inwiefern die Gesundheitsversorgung gesellschaftlich marginalisierter Gruppen als Indikator für gesellschaftlichen Zusammenhalt gelten kann. Dazu untersucht es zunächst, wie Angehörige ganz unterschiedlicher marginalisierter Gruppen den Zugang zur Gesundheitsversorgung erleben, welche Erfahrungen sie dabei machen und wie dadurch Zusammenhalt in der Gesellschaft oder in Teilen der Gesellschaft gestärkt oder gefährdet wird. Wir betrachten Zusammenhalt in diesem Projekt folglich als abhängige Variable, die durch Erfahrungen geprägt wird, die wiederum in Makrostrukturen eingebettet sind. Um hinreichend viel Varianz für entsprechende Rückschlüsse sicherzustellen, vergleicht das Projekt außerdem die Gesundheitsversorgung marginalisierter Gruppen zwischen Bundesländern bzw. kleineren Verwaltungseinheiten mit Unterschieden bei Indikatoren des gesellschaftlichen Zusammenhalts oder mit unterschiedlichen Politiken, z.B. bei der Versorgung von Geflüchteten (eigene Arbeiten dazu u.a. Bozorgmehr, Noest, Thaiss & Razum, 2016; Bozorgmehr& Razum, 2019).

Spezifischer lauten die Fragestellungen für das Forschungsprojekt: (1) Welche ausgrenzenden Mechanismen schaffen Barrieren beim Zugang zur gesundheitlichen Versorgung für Angehörige marginalisierter Gruppen? Wie nehmen Angehörige marginalisierter Gruppen den Zugang zu Gesundheitsversorgung wahr, und in welchem Zusammenhang steht dies zur Wahrnehmung von gesellschaftlichem Zusammenhalt? (2) Mit welchen Strategien können Gesundheitsdienste Barrieren überwinden und damit gleichberechtigte gesundheitliche Teilhabe von Angehörigen marginalisierter Gruppen fördern? (3) Variiert die Gesundheitsversorgung marginalisierter Gruppen als Funktion makrostruktureller Indikatoren bzw. als Funktion von Indikatoren des gesellschaftlichen Zusammenhalts wie spezifischer Gesetzgebung, Wahlergebnissen populistischer Parteien oder anderer Maße gesellschaftlicher Ungleichheit?

Grob gefasst sollen dabei die folgenden Hypothesen geprüft werden: (1) Exkludierende Mechanismen auf Ebene von Politik und Gesundheitssystem führen zu Barrieren beim Versorgungszugang für Angehörige marginalisierter Gruppen. Diese Barrieren können zur Entstehung eines beeinträchtigten Gesundheitszustands beitragen oder vorbestehende gesundheitliche Beeinträchtigungen verstärken. Sie stellen außerdem Diskriminierungserfahrungen dar, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden können. (2) Politik sowie Organisationsform der Gesundheitsdienste (z.B. „one catch all“- vs. zielgruppenspezifische Angebote) können soziale Ausschlussprozesse und damit Barrieren verstärken oder vermindern. (3) Exklusionsmechanismen auf der Mikroebene (z.B. Interaktionen zwischen Patient*innen und Ärzt*innen) sind stets auch durch makrostrukturelle Faktoren gerahmt. Es finden sich daher Unterschiede zwischen Bundesländern, die zumindest teilweise durch Unterschiede im gesamtgesellschaftlichen Klima erklärt werden können.

Das Projekt betrachtet zudem die affektive Komponente von Zusammenhalt aufseiten von Angehörigen marginalisierter Gruppen im Lichte ihrer Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem. Darüber hinaus fokussiert es auch auf die abhängige Variable der gesellschaftlichen Teilhabe von Angehörigen gesellschaftlich marginalisierter Gruppen, gemessen als Zugang zu den Gesundheitsdiensten sowie an Dimensionen gesellschaftlicher Teilhabe.
 

Thematischer Bezug zu gesellschaftlichem Zusammenhalt

Potenziell exkludierende Mechanismen sind so vielfältig wie die Merkmale gesellschaftlich marginalisierter Gruppen, die davon betroffen sind. Sie können sozialen Status ebenso beinhalten wie ethnische Zugehörigkeit, Gender und anderes und in Lebensbereichen wie Schule, Bildung und Arbeitsmarkt ebenso bewusst oder unbewusst zur Anwendung kommen wie im Bereich der Gesundheitsversorgung. Hier können sie als Verletzung der Integrität der betroffenen Person zu Barrieren beim grundlegenden Zugang zur gesundheitlichen Versorgung führen, wenn beispielsweise eine geflüchtete Person in Deutschland anders versorgt wird als eine Person mit festem Aufenthaltstitel oder mit deutscher Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig oder zusätzlich können solche Erfahrungen aufseiten der betroffenen Personen zu einem Vertrauensverlust in die Gesellschaft oder deren Institutionen führen, also das generalisierte Vertrauen reduzieren, das als Indikator von sozialem Zusammenhalt gilt (z.B. Putnam 2001). Insbesondere Diskriminierungserfahrungen unterminieren dieses Vertrauen und können so zum Auseinanderdriften einer Gesellschaft beitragen, wenn ganze Gruppen systematisch von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen werden (z.B. Glanville et al. 2013).

Das Projekt befasst sich daher mit den im Antragstext ausführlicher beschriebenen Mikrodynamiken des Zusammenwirkens zwischen Organisationseinheiten – in diesem Fall des Gesundheitssystems, Krankenhäusern, Arztpraxen und so weiter – auf der einen und den Alltags- und Lebenswelten der auf Gesundheit angewiesenen Angehörigen einer Gesellschaft auf der anderen Seite. Als gesellschaftlichen Zusammenhalt betrachten wir nicht bloß die grundsätzliche Passung zwischen Angeboten und Bedarfen, sondern insbesondere auch den bedarfsgerechten Zugang zu Gesundheitsangeboten unabhängig von der Zugehörigkeit zu sozialen Kategorien. Wir gehen davon aus, dass ein Gesundheitssystem erstens in der Lage sein kann und muss, entsprechende Barrieren zu erkennen und abzubauen (also inklusiv zu sein). Zweitens muss es die Rolle dieser Merkmale im Nutzer*innen-Verhalten und in der Krankheitsentstehung berücksichtigen können. Im Selbstverständnis des Standorts leistet das Projekt so einen Beitrag, den konstruktiven Zusammenhalt der Gesellschaft durch die Inklusion gesellschaftlich marginalisierter Gruppen im Lebensbereich Gesundheitsversorgung zu stärken. Gleichzeitig soll destruktiver Zusammenhalt besser verstanden werden, der als „nicht zugehörig“ markierte Gruppen oder Angehörige solcher Gruppen systematisch durch individuelle Entscheidungen oder systemimmanente Ausgrenzungsmechanismen (institutionelle Diskriminierung) von gesellschaftlicher Teilhabe in der Gesundheitsversorgung ausschließt und so auch vorher bestehende Unterschiede weiter verstärken kann.

Mit Blick auf die im Antragstext formulierte Heuristik setzt sich das Projekt mit den sozioökonomischen Faktoren auf der Mikro- und Makroebene von Gesellschaften auseinander und nimmt hier insbesondere die „möglichst chancengleiche Teilhabe aller Personen an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens“ in den Blick (SVR 2012). Es betrachtet ebenso Strukturbedingungen, die gesellschaftlichen Zusammenhalt herstellen oder gefährden: Durch den vergleichenden Ansatz soll das Projekt Auskunft geben über die Zusammenhänge zwischen makrostrukturellen Rahmenbedingungen (z.B. Verwaltungspraktiken, regionale Ungleichheit, Wahlergebnisse populistischer Parteien) und der Gesundheitsversorgung marginalisierter Gruppen. Indem das Projekt schließlich ausdrücklich die Perspektive marginalisierter Gruppen einbezieht, stellt es nicht nur den Transfer und die Verankerung sämtlicher Forschungsfragen in der Lebenswirklichkeit der Betroffenen sicher. Durch diese Perspektive wird auch die affektive Komponente von Zusammenhalt berücksichtigt, indem untersucht wird, inwiefern eigene Erfahrungen im Gesundheitssystem Zusammenhalt gefährden (z.B. durch Diskriminierungserfahrungen) oder zumindest in Teilen der Gesellschaft auch stärken können (z.B. durch geteilte Schicksale).


Bozorgmehr, K., Noes, S., Thaiss, H. M., & Razum, O. (2016). Die gesundheitliche Versorgungssituation von Asylsuchenden. Bundesweite Bestandsaufnahme über die Gesundheitsämter Bundesgesundheitsbl, 59(5), 545-555.

Bozorgmehr, K., & Razum, O. (2019). Negotiating access to health care for asylum seekers in Germany. In WHO Europe (Ed.), Health Diplomacy: Spotlight on Refugees and Migrants (pp. 163-169). Copenhagen: WHO Europe.

Brzoska, P., & Razum, O. (2017). Herausforderungen einer diversitätssensiblen Versorgung in der medizinischen Rehabilitation. Rehabilitation (Stuttg), 56, 299-304.

Gilbert, K. L., Quinn, S. C., Goodman, R. M., Butler, J., & Wallace, J. (2013). A Meta-Analysis of Social Capital and Health: A Case for Needed Research. Journal of Health Psychology, 18, 1385-1399.

Kahn, S., Alessi, E., Woolner, L., Kim, H., & Olivieri, C. (2017). Promoting the wellbeing of lesbian, gay, bisexual and transgender forced migrants in Canada: providers' perspectives. Cult Health Sex, 19(10), 1165-1179.

Marmot, M., Allen, J., Bell, R., Bloomer, E., Goldblatt, P., & Consortium for the European Review of Social Determinants of Health and the Health Divide. (2012). WHO European review of social determinants of health and the health divide. Lancet, 380(9846), 1011-1029.

Namer, Y., & Razum, O. (2019). Subgroup-specific services or universal health coverage in LGBTQ+ health care? The Lancet Public Health, 4(6), e278.

Razum, O., & Spallek, J. (2014). Addressing health-related interventions to immigrants: migrant-specific or diversity-sensitive? Int J Public Health, 59(6), 893-895.

Redman-MacLaren, M., & Mills, J. (2015). Transformational Grounded Theory: Theory, Voice, and Action. International Journal of Qualitative Methods, 14(3), 1-12.

Thoits, P. A. (2011). Mechanisms linking social ties and support to physical and mental health. Journal of Health and Social Behavior, 52, 145–161.

Prof. Dr. Yudit Namer
Bielefeld

Prof. Dr. Yudit Namer

Yudit Namer ist Juniorprofessorin an der Universität Twente im Department of Psychology, Health and Technology und Projektleiterin in…
y.namer@utwente.nl
Prof. Dr. Oliver Razum
Bielefeld

Prof. Dr. Oliver Razum

Oliver Razum ist Mediziner und Epidemiologe. Er forscht zu sozialen Determinanten von Gesundheit, insbesondere zum Zusammenhang…
oliver.razum@uni-bielefeld.de

Projektmitarbeiter:innen

 Alex Stern
Bielefeld

Alex Stern

Alex Stern ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der AG3 Epidemiologie & International Public Health der Fakultät für…
a.stern@uni-bielefeld.de

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06 / 2020 – 05 / 2024

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  • Cluster 2: Strukturen, Räume und Milieus des Zusammenhalts
  • C2: Institutionelle Strukturen und öffentliche Güter
  • C2: Milieu und soziale Ungleichheiten

15:30-18:00 Online/ Berlin

Ungesehen, ungeschützt, unversichert: Wie kann ein diskriminierungsfreier Zugang zu Gesundheitsversorgung in Deutschland verwirklicht werden?

Yudit Namer (FGZ Bielefeld) berichtet im Rahmen der Veranstaltung aus ihrem Projekt: „Which exclusionary mechanisms create barriers to accessing health care?”.

FGZ-interne Kooperationspartner:innen

Prof. Dr. Andreas Zick
Bielefeld

Prof. Dr. Andreas Zick

Prof. Dr. Andreas Zick ist seit 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und Professor…
zick.ikg@uni-bielefeld.de
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