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Solidaritätsgeschichten: Neues Webportal stellt Erfahrungen in gesellschaftlichen Umbrüchen seit 1990 in den Mittelpunkt

Das Webportal „Solidaritätsgeschichten“ macht Erfahrungen von Menschen aus Zeiten von großen gesellschaftlichen Umbrüchen sicht- und hörbar, die in der Öffentlichkeit bislang wenig oder keine Beachtung finden. Was ermöglicht Solidarität? Und was verhindert sie? Im Beitrag erklären Ines Grau (FGZ Konstanz) und Dr. Mathias Berek (FGZ Berlin) Idee und Ziel ihres Projekts.

Warum beschäftigen Sie sich in Ihren Forschungen und nun auch mit dem neuen Portal auf ganz besondere Weise mit „Solidarität"?

Gerade in Zeiten von Klima-, Pandemie-, Infrastruktur-, Pflege-, Energie- und Demokratiekrise stellt sich in unseren postmigrantischen, global vernetzten und zunehmend digitalisierten Gesellschaften die Frage nach Solidarität und Zusammenhalt neu und verschärft. Wer hält mit wem zusammen? Wer solidarisiert sich mit wem und warum? Solidaritaetsgeschichten.de ist wie die dahinterstehenden Forschungsprojekte in Berlin und Konstanz von dem Interesse getrieben, Praktiken von Solidarität in vergangenen und gegenwärtigen Umbruchssituationen zu untersuchen – aber auch, warum sie teilweise ausbleiben und von Ressentiment ersetzt wurden.

Sie arbeiten für das Portal „Solidaritätsgeschichten“ mit Interviews, die ursprünglich für Forschungsprojekte geführt wurden – worin besteht der Mehrwert im Vergleich zur „klassischen” wissenschaftlichen Arbeit mit den Materialien und ihrer Veröffentlichung als Teil von Forschungspublikationen? Was gibt es zu beachten, nicht zuletzt mit Blick auf die Interviewpartner:innen?

Im Webportal werden Ausschnitte aus wissenschaftlichen Interviews einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Die Reichweite des Webportals ist dabei potenziell viel größer als bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Wir wollen mit dem Portal einen Möglichkeitsraum eröffnen – wir wollen Geschichten erzählen, die sonst eher nicht gehört werden. Im Portal werden teilweise sehr persönliche Erfahrungen in den Mittelpunkt gestellt – wir veröffentlichen Interviewpassagen als Text und stellen auch den Kontext der Erfahrungen mit Bildmaterial vor. Zwar haben wir uns gegen eine Veröffentlichung der Namen der Erzähler:innen entschieden, in ihren konkreten lokalen Kontexten sind sie anhand der Textausschnitte aber durchaus identifizierbar – im Vergleich zur Publikation von Forschungsergebnissen auf Grundlage von Interviews (bei denen die Tendenz zur Abstraktion und Dekontextualisierung überwiegt). Daraus resultiert eine viel größere Exposition, die wir so natürlich nur in enger Zusammenarbeit mit unseren Gesprächspartner:innen realisieren können. Aus forschungsethischer Sicht für uns noch nicht abschließend geklärt ist die Einbindung von Audiomaterial. Auf der vergangenen FGZ-Transfertagung im Frankfurt hatten wir Audiostationen aufgebaut und die Besucher:innen konnten in ausgewählte Interviews hineinhören. Dazu haben wir viel positives Feedback erhalten, denn als O-Ton bekommen die Erzählungen eine zusätzliche persönliche Note und sind viel zugänglicher, verständlicher. Die Aufnahme transportiert Informationen (Stimmung, Betonung, Dialekt, individueller Stimmklang usw.), die in einem Text gar nicht abbildbar sind. Genau aus diesem Grund erfordert die Veröffentlichung von Audiomaterial aber auch noch mehr Fingerspitzengefühl und genaue Absprachen mit den Gesprächspartner:innen.

War es schwierig die Gesprächspartner:innen vom Projekt zu überzeugen?

Grundsätzlich haben wir eine große Gesprächsbereitschaft und Offenheit festgestellt. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass letztendlich bereits unsere Anfrage an mögliche Interviewpartner:innen eine Form der Wertschätzung und Anerkennung ihres Engagements ausdrückt. In der Forschung zum langen Sommer der Migration war es manchmal schwierig, Menschen mit Fluchtbiografie ausfindig zu machen, die sich auf ein Gespräch einlassen konnten. Bei vielen hatte das u.a. damit zu tun, dass sie erwerbsarbeitsmäßig sehr stark eingebunden sind und parallel meist zahlreiche Probleme administrativer, gesundheitlicher, familiärer Art in ihrem Alltag zu bewältigen haben. Viele befinden sich bis heute in einer Art dauerhaften Krisenmodus.

Verändert die Intensität der Zusammenarbeit für das Webportal den wissenschaftlichen Blick auf Interviewpartner:innen?

Es zeigt sich bereits jetzt, dass die Rolle des Webportals über eine rein dokumentarische Funktion hinausweist. Die intensive Arbeit, die einen regelmäßigen Austausch mit Praxispartner:innen erfordert, in Kombination mit der Organisation von öffentlichen Veranstaltungen (u.a. Erzählsalons, nächster Termin in Konstanz am 26.1. am Theater Konstanz), hat bei uns einen Prozess der teilhabeorientierten Ko-Konstruktion von Wissen angestoßen, der wissenschaftliche Funktionslogiken überschreitet. Dadurch wird eine enge Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft befördert, die neue Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten eröffnet, ohne traditionelle Praxen und Logiken der beteiligten Handlungsfelder in Frage zu stellen.

Dazu gehört auch eine Autonomie der Sprechenden: Es sind ihre Gedanken, Analysen und Erinnerungen. Auch wenn wir die Interviews für die Website bearbeitet haben, bleiben es ihre Aussagen – und sie werden ja auch von ihnen abgenommen. Und es gab auch schon öffentliche Situationen, in denen die aufwühlende biographische Erzählung des Zeitzeugens in ihrer Klage und Wut über Rassismus in unserer Gesellschaft den Veranstaltungsplan änderte, weil sich die „schnelle“ Abstraktion, die mit ihrer Einordnung und Einrahmung in eine übergreifende Analyse verbunden wäre, verbat. Solche Momente stören unsere wissenschaftliche Ordnung zwischen „Feld” und „Analyse“ und erlauben die Reflektion von Machtverhältnissen, die ihr notwendigerweise eingeschrieben sind – wir glauben, dass es gut ist, wenn Wissenschaft auch an unerwarteten Stellen ein paar Schritte zurücktreten muss und damit in Bewegung bleibt. Umgekehrt ist unsere Hoffnung, dass das Webportal auch für die Interviewpartner:innen bedeutungsvoll ist, insofern es ihre Erfahrungen und die anderer Protagonist:innen und Kollektive bündelt und ihnen Resonanz verleiht. Diejenigen beispielsweise, die gegenwärtig in der Arbeit mit Geflüchteten aktiv sind, sehen das Portal auch als einen Kanal, ihre Initiative über Kommune und Region hinaus bekannt zu machen und einen überregionalen Praxisaustausch anzustoßen.

Welche Forschungsprojekte waren Ausgangspunkt des Webportals?

Das ist zunächst das Forschungsprojekt „Solidarität erzählen“ (FGZ Konstanz, Prof. Dr. Albrecht Koschorke & Ines Grau), in dem der lange Sommer der Migration bzw. die sogenannte „Flüchtlingskrise“ 2015/16 in den Kommunen in den Blick genommen wird. In dieser medial engmaschig kommentierten, historischen Ausnahmesituation mobilisierten sich Millionen Bürger:innen, um Geflüchtete mit dem Nötigsten zu unterstützen. Mit dem raschen Rückgang der Einreisezahlen im Frühjahr 2016 nahm auch die mediale Aufmerksamkeit für die sogenannte „Willkommenskultur“ ab. Nichtsdestotrotz sind bis heute zahlreiche Menschen in der Arbeit mit Geflüchteten aktiv und ihr Engagement ist in den Kommunen unverzichtbar, erst recht vor dem Hintergrund multipler Krisen der Gegenwart und neuer Migrationsbewegungen. Das Forschungsprojekt konzentriert sich dabei auf konkrete lokale Dynamiken in zwei in Bezug auf Bevölkerungszahl und Sozialstruktur in etwa vergleichbaren deutschen Städten, nämlich Jena und Konstanz. Dort führte Ines Grau 2021 und 2022 über 40 teilstrukturierte narrative Interviews mit unterschiedlichsten Akteur:innen. Die Interviewten waren bzw. sind bis heute als Haupt- oder Ehrenamtliche städtischer Behörden, in Vereinen, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Bildungsinstitutionen, als Sozialarbeiter:innen, Nachbar:innen, Politiker:innen mit oder ohne Fluchterfahrung, in die Ereignisse seit dem langen Sommer der Migration eingebunden. Auf dieser empirischen Grundlage und ergänzt um weitere Dokumente (Presseartikel, Webseiten, Flyer usw.) wurde das Feld der Geflüchtetenarbeit und seine Prozessdynamik seit 2014/15 in beiden Kommunen in seiner Vielstimmigkeit, Kontingenz und sozialräumlichen Einbettung rekonstruiert. In den erhobenen Erzählungen verdichten sich lebensweltnahe, im praktischen Handeln und im persönlichen Erleben verankerte Erfahrungen. Im Webportal werden sie redaktionell aufbereitet und ergänzt mit Fotos einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Erzählungen sind verzahnt mit den gesellschaftlichen Diskursen über Geflüchtete, „Flüchtlingskrise" und „Willkommenskultur“. Doch sie sind nicht deckungsgleich und haben ein Eigenleben, das zumeist unter dem Radar der medial vermittelten gesellschaftlichen Öffentlichkeit läuft. Sie ergeben ein vielstimmiges gesellschaftliches Erzählwerk zum langen Sommer der Migration, das bis in die Gegenwart reicht. Sie erzählen von einer kollektiven Aufbruchstimmung, von Engagement und Selbstermächtigung, von neuen solidarischen Bündnissen in den Kommunen. Ebenso verdichten sich in ihnen Erfahrungen mit Frakturen der Aufnahmegesellschaft, mit Rassismus und Gewalt, mit Hilflosigkeit und enttäuschten Erwartungen.

Das zweite am Webportal beteiligte Forschungsprojekt will mehr darüber in Erfahrung bringen, wie die 1990er Jahre gegenwärtige Vorstellungen von Gesellschaft, Politik und Zusammenhalt prägen (FGZ Berlin, Dr. Felix Axster & Dr. Mathias Berek). Dieses Jahrzehnt ist vor allem deshalb interessant, weil die dominante öffentliche Erinnerung daran lange Zeit geschönt war. Doch für viele Menschen war diese Zeit eben nicht einfach nur positiv von Wende, Einigungs- (bzw. Anschluss-)Prozess und Aufbau Ost geprägt, sondern allein schon auf den Osten bezogen ist das Bild komplizierter. Bei vielen Menschen haben wir es mit zwei ganz gegensätzlichen Erfahrungen zu tun: der Erfahrung enormer Selbstwirksamkeit, ein scheinbar unverrückbares System in kürzester Zeit mit zu Fall gebracht zu haben, und der Erfahrung von großer Ohnmacht gegenüber (aber oft selbstgewählten) Mächten, aber auch gegenüber Prozessen der Entsolidarisierung und enthemmtem Nationalismus und Rassismus – also der Erfahrung, dann doch ganz offenbar nicht allzu viel Einfluss auf den weiteren Gang der Dinge zu haben. Schauen wir auf Westdeutschland, wird die Szenerie noch unübersichtlicher, nicht zuletzt, weil die Wende dort für die einen eben überhaupt keine solche war, und für die anderen eine zum Schlechteren. Uns interessieren vor allem Erzählungen, die von der offiziellen Erfolgsgeschichte abweichen. Welche Narrative von Zusammenhalt oder dessen Erosion bestimmen die Erinnerung an Wende und Nachwendezeit? Welche solidarischen Praxen und Ressentiments zeichnen sich in diesen Narrativen ab? Der Titel unserer Studie am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) ist: „Zusammenhalt und Ressentiment in Krisenzeiten: Erinnerungen an die Wende- und Nachwende-Zeit im Ost-West-Vergleich“. Basis unserer Untersuchung sind biographische Interviews über die 1990er Jahre. Sie werden systematisch auf Zusammenhaltsvorstellungen sowie auf die Beziehung zwischen Krisenerfahrung und Entstehung von Ressentiments hin untersucht. Wir legen dabei einen Schwerpunkt auf Gruppen, die tendenziell sowohl in den offiziellen Erinnerungen als auch in der Gesellschaft marginalisiert wurden: Betroffene der Deindustrialisierung, ehemalige Vertragsarbeiter:innen, Linke, Jüdinnen_Juden. Uns interessiert dabei auch, welchen Bezug zur Gegenwart die Erinnernden herstellen, wenn sie heute über die damaligen Umbrüche sprechen: Was haben ihre damaligen Erfahrungen mit ihren gegenwärtigen Vorstellungen von Politik und Gesellschaft gemacht?

Wird das Portal über diese Projekte hinaus weiterentwickelt, ist Platz für Interviews aus anderen Forschungsprojekten?

Mit dem Webportal haben wir eine Struktur geschaffen, die auf Dauer und Stabilität angelegt ist. Es liegt auf Servern der Universität Konstanz und steht auch für die künftige Forschungs- und Transferarbeit des FGZ zur Verfügung. In den nächsten Wochen und Monaten werden wir sukzessive weiteres Interviewmaterial aus unseren Forschungen aufbereiten und im Portal veröffentlichen. Die ersten jetzt vorliegenden Erzählungen sind nur der Anfang. Außer Frage steht, dass mit dem Webportal auch eine Grundlage gelegt ist, Solidaritätsgeschichten aus anderen Forschungsprojekten, aber auch mit anderen Themenschwerpunkten, oder aus weiteren Gruppen, Regionen oder Ländern einzubinden. Es gibt zahlreiche gesellschaftliche Bereiche, aus denen Solidarität nicht wegzudenken ist und die auf dem Webportal bisher nicht zur Sprache kommen. Um der redaktionellen Linie des Projektes gerecht zu werden, ist es aber wichtig, dass die zu Grunde gelegten Erzählungen möglichst offen gestalteten Erhebungssituationen im Feld entstammen. Denn alle auf dem Webportal zusammengestellten Geschichten zeichnen sich dadurch aus, dass sie von den Erzähler:innen soweit wie möglich entlang eigener Schwerpunkte strukturiert wurden, auch wenn wir natürlich wissen, dass die Interaktion mit dem oder der Gesprächspartner:in und die Charakteristiken der Erhebungssituation selbst immer auch einen Einfluss auf das Gesagte haben.

Die Fragen stellte Dr. Mathias Rodatz

Zum Portal solidaritaetsgeschichten.de

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