Zusammenhalt in der europaweiten Energiewende
C_07 – Halle – Hannover – Leipzig
Indem es Öffentlichkeitsbeteiligungsverfahren als institutionalisierte voice-Option untersucht, leistet das Arbeitspaket (AP) einen wichtigen Beitrag zur übergeordneten Fragestellung des FGZ nach dem Zusammenhalt in Demokratien. Im Zentrum steht dabei der gesellschaftliche Zusammenhalt in grenzüberschreitenden Regionen im Kontext ökologischer Transformationsprozesse. Neben der voice-Funktion haben Öffentlichkeitsbeteiligungsverfahren das Potenzial, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ebenfalls die loyalty gegenüber demokratischen Institutionen zu stärken. Das AP perspektiviert so die Schwerpunktfragen, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt zur Bewältigung von Transformationsprozessen beiträgt und diese den Zusammenhalt in besonders betroffenen Regionen gleichzeitig herausfordern. Es trägt damit zu den Leitfragen des Themenfelds C bei, wie sich trennenden Effekte in der Gestaltung innovativer Infrastrukturen und öffentlicher Güter entfalten.
Die zentrale Fragestellung des AP lautet daher, inwiefern Konflikte im Rahmen der sozial-ökologischen Transformation mithilfe von Beteiligungsverfahren konstruktiv bearbeitet werden können und damit einen Beitrag leisten, die sozial-ökologische Transformation zu unterstützen und alte Infrastrukturen abzubauen bzw. neue Infrastrukturen aufzubauen, ohne darüber Demokratie und Zusammenhalt zu verlieren.
Wir verfolgen hier zwei komplementäre Zugänge, die sich auf den Abbau beziehungsweise auf den Ausbau von Infrastrukturen in der Energiewende beziehen:
Zum einen wird der regionale Strukturwandel im Kontext des Braunkohleausstiegs in Deutschland und im Dreiländereck von Polen, Tschechien und Deutschland analysiert. Exemplarisch wird dabei der Konflikt um den Tagebau Turów betrachtet. Ausgehend von den Kernfragen des Themenfelds wird untersucht, (1) wie sich Infrastrukturen mit dem Braunkohleausstieg verändern und welche Folgen daraus für den gesellschaftlichen Zusammenhalt resultieren, und (2) welche spezifischen Maßnahmen ergriffen werden können, um Infrastrukturen als Ressource in der sozial-ökologischen Transformation und damit zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – auch grenzüberschreitend – zu nutzen. Das AP nutzt einen transformativen Ansatz, um den Zusammenhalt vor Ort durch einen mehrstufigen Transferprozess zu aktivieren.
Zum anderen werden Konflikte beim Ausbau grenzüberschreitender Energieinfrastrukturen untersucht, wobei nach Erstellung einer Trassenmatrix zwei Regionen miteinander verglichen werden, die in unterschiedlicher Weise von der Energietransformation betroffen sind. Die Fallauswahl erfolgt nach Erhebung des Verfahrensstands. Dabei wird untersucht, inwiefern Konflikte beim Ausbau neuer Infrastrukturen mithilfe institutionalisierter Öffentlichkeitsbeteiligungsverfahren konstruktiv bearbeitet werden können und diese damit als (grenzübergreifende) Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenhalts wirken.
Der Braunkohleausstieg ist, ebenso wie der Ausbau erneuerbarer Energien und entsprechender Energieinfrastrukturen, wesentlicher Bestandteil und zugleich räumliches Manifest einer übergreifenden und vielschichtigen sozial-ökologischen Transformation. Durch den Braunkohleausstieg werden die Rahmenbedingungen für nachhaltige Entwicklung und soziale Innovation neu definiert. Neben der Bewältigung und Gestaltung des regionalen Strukturwandels stellt der Ausbau von Energieinfrastrukturen und speziell der Bau „unerwünschter Infrastrukturen“ wie Stromtrassen den gesellschaftlichen Zusammenhalt zusätzlich vor erhebliche Herausforderungen.
Laut Hirschmans exit-voice-loyalty-Modell können Akteur:innen unterschiedlich auf diesen Prozess reagieren, was Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat: Im Kontext des Braunkohleausstiegs und des Energieinfrastrukturausbaus können Regierungen die Legitimation des Transformationsprozesses durch Appelle an den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterstützen (loyalty). Gleichzeitig können Betroffene versuchen, den Wandel aktiv mitzugestalten (voice) und eine nachhaltige Transformation unterstützen. Alternativ können Akteur:innen den Wandel ablehnen und sich der Auseinandersetzung mit der sozial-ökologischen Transformation entziehen (exit). Transfer- und Partizipationsverfahren bieten hier eine geeignete Möglichkeit, durch Mitwirkung am Transformationsprozess sowohl soziale als auch physische Infrastrukturen vor Ort zu stärken. Dabei kann zum einen ein zielgruppenorientierter Einsatz partizipativer Instrumente gesellschaftlichen Zusammenhalt unterstützen, indem das Gefühl der Mitbestimmung, Selbstwirksamkeit und kollektiver Wirksamkeit der Zielgruppe gesteigert wird. Zum anderen können institutionalisierte Öffentlichkeitsbeteiligungsverfahren einen Raum für konstruktive Konfliktbearbeitung schaffen.
Noch wenig in der Forschung berücksichtigt sind unterschiedliche politische und gesellschaftliche Partizipationskulturen in Europa. Wir gehen davon aus, dass Bürger:innen Partizipationsformate in unterschiedlichen demokratischen Systemen unterschiedlich nutzten. Das liegt daran, dass sie unterschiedlich geübt sind in der Nutzung solcher Verfahren, was sich in der Varianz ihrer participatory literacy zeigt. Ob und wie Partizipation wirkt, kann somit potenziell nach Umfeld variieren und hängt mit weiteren Rahmenbedingungen zusammen: So gibt es etwa im Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland neben den bekannten Transformationsherausforderungen unterschiedliche Einstellungen zum Strukturwandel als auch unterschiedliche Organisationsmodi des politischen Systems (Deutschland als Föderalstaat, Polen und Tschechien unitarisch). Mit Blick auf Energie- und Infrastrukturprojekte ergeben sich damit für Nationalstaaten und Regionen unterschiedliche Vor- und Nachteile bzw. Betroffenheiten. So gibt es Regionen, die im Zusammenhang mit der Energiewende als „Gewinnerregionen“ betrachtet werden können, etwa Küstenregionen, da sie wirtschaftlich vom Ausbau der Windenergie profitieren.
Vor diesem Hintergrund trägt AP C_07 entscheidend zum Verständnis der verschiedenen Herausforderungen und Konfliktfelder im Zusammenhang mit der sozial-ökologischen Transformation bei. Es leistet (1) eine akteurszentrierte Analyse des regionalen Strukturwandelprozesses im Rahmen der Dekarbonisierung in der polnisch-tschechisch-deutschen Grenzregion und (2) eine Analyse der Rolle von Partizipation im Kontext von Transformation für den Zusammenhalt im Ländervergleich. Zusätzlich (3) aktiviert es Zusammenhalt über Transfer- und Partizipationsprozesse.
Prof. Dr. Eva Ruffing
Prof. Dr. Everhard Holtmann
Prof. Dr. Astrid Lorenz
Projektmitarbeiter:innen
Dr. Viktoria Brendler
Isabel Müller
Luisa Pischtschan
Mandy Stobbe
Praxispartner:innen
- Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung
- Europa-Union Deutschland
Euroregion Neisse-Nisa-Nysa