Entwicklung und Lernen von gesellschaftlichem Zusammenhalt in der Schule
BIE_F_09 – Bielefeld
Zielsetzung / Fragestellung
Eine wichtige Basis konstruktiven gesellschaftlichen Zusammenhalts im Erwachsenalter wird bereits in der Schule gelegt. Als Teilsystem der Gesellschaft kommt der Institution Schule eine zentrale Sozialisations- und Integrationsfunktion zu. Innerhalb dieses strukturell vorgegebenen Rahmens findet für alle Kinder und Jugendlichen mehr oder weniger unfreiwilliger Kontakt zu anderen Gleichaltrigen und (nicht verwandten) erwachsenen Bezugspersonen vorwiegend im sozialen Kontext Schulklasse statt. Durch vielfältige soziale Interaktionen und Beziehungen sowie normative Einflüsse wird die soziale Partizipation beziehungsweise Teilhabe jedes einzelnen geprägt. Zum Ende der Sekundarstufe I wird die Integrationsfunktion von Schule besonders relevant, da diese Stufe den Übergang in die Ausbildung oder ins Berufsleben und damit den Einstieg in die Rolle als sozial verantwortlicher Angehöriger einer Gesellschaft bildet.
Im geplanten Projekt wird als erstes geprüft, inwieweit sich Dimensionen gesellschaftlichen bzw. sozialen Zusammenhalts in der Sekundarstufe I abbilden lassen. Anschließend wird untersucht, wie sich sozialer Zusammenhalt unter Jugendlichen in Schulklassen der Sekundarstufe I entwickelt, und inwiefern bestimmte Faktoren auf individueller, kontextueller und struktureller Ebene die Entwicklung eines konstruktiven oder destruktiven Zusammenhalts beeinflussen. Als Einflussfaktoren werden vorrangig in den Blick genommen: die gegenseitige soziale Akzeptanz, die subjektiv erlebte Partizipation, die Diversität innerhalb der Schülerschaft, das soziale Klassenklima respektive die normative Peerkultur, der Schultyp sowie die Identifikation mit der Institution Schule. In Bezug auf die Diversität der Schülerschaft werden die Heterogenitätsdimensionen Behinderung, Migrationshintergrund und Deutsch als Zweitsprache betrachtet, da diese Dimensionen häufig mit geringerer sozialer Akzeptanz verknüpft sind. Perspektivisch soll zudem die Veränderung der Wahrnehmung und Bedeutung von gesellschaftlichem Zusammenhalt im Jugendalter nach dem Übergang in die weiterführende (berufliche) Ausbildung erforscht werden.
Thematischer Bezug zu gesellschaftlichem Zusammenhalt
Schule ist ein zentraler Sozialisationsraum und damit ein wichtiger gesellschaftlicher Bereich. Den Großteil ihrer Schulzeit verbringen Kinder und Jugendliche im Klassenverbund, in dem Aspekte von gesellschaftlichem Zusammenhalt wie etwa Kooperation, Hilfsbereitschaft, Toleranz oder Anerkennung sozialer Regeln gelernt werden. Die sozialen Erfahrungen und Beziehungen, die Kinder und Jugendliche im Rahmen der Schule erleben beziehungsweise knüpfen, prägen ihre aktuelle und zukünftige soziale Partizipation und ihre Rolle in der Gesellschaft. Eine positiv erlebte soziale Partizipation und ein konstruktiv gelebter sozialer Zusammenhalt innerhalb einer Klassengemeinschaft sind von großer Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Erwachsenenalter, dessen entscheidende Anfänge somit in Kindheit und Jugend verortet werden können.
Erhöhte gesellschaftliche Relevanz erhält das Projekt aufgrund der aktuellen (bildungs-) politischen Diskussionen und Initiativen rund um schulische Inklusion. Das übergeordnete, langfristige Ziel schulischer Inklusion ist eine inklusive Gesellschaft, die von gegenseitiger Akzeptanz, sozialer Unterstützung und Chancengleichheit hinsichtlich verschiedener Heterogenitätsdimensionen geprägt ist. Schulische Inklusion findet somit eine Entsprechung im Grundverständnis konstruktiven gesellschaftlichen Zusammenhalts. Zusätzliche Aufmerksamkeit kommt schulischer Inklusion seit dem Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung der United Nations (UN) im Jahre 2009 zu. Deutschland hat sich dadurch unter anderem dazu verpflichtet, allen Kindern und Jugendlichen einen diskriminierungsfreien Zugang zum allgemeinen Bildungssystem zu ermöglichen und zugleich eine optimale schulische und soziale Entwicklung zu unterstützen (UN 2007: Art. 24). Durch ein inklusives Bildungssystem wird die Heterogenität der Schülerschaft verstärkt und betont, was zum einen mit erhöhten Risiken bezüglich Ausgrenzung gewisser Schülergruppen und zum anderen mit Chancen bezüglich Lernen von gegenseitiger Akzeptanz und sozialem Zusammenhalt verbunden sein kann.
Mit dem Projekt wird somit bewusst Bezug auf die Arbeitsdefinition gesellschaftlichen Zusammenhalts des FGZ genommen und untersucht, inwieweit sich sozialer Zusammenhalt im gesellschaftlichen Sozialisationsraum Schule abbildet. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, durch welche individuellen und kontextuellen Faktoren sozialer Zusammenhalt in Klassengemeinschaften der Sekundarstufe I beeinflusst wird. Die Erkenntnisse sollen weiterführenden Untersuchungen Anhaltspunkte liefern, inwiefern sozialer Zusammenhalt im schulischen Kontext bewusst herstellbar und steuerbar ist oder ob er vielmehr als nicht-intendierter Nebeneffekt alltäglicher sozialer Praktiken selbst entsteht. Insofern wird sowohl ein begrifflich-theoretischer als auch ein empirisch-analytischer Beitrag geleistet.
United Nations 2007: Convention on the Rights of Persons with Disabilities and Optional Protocol, New York.
Prof. Dr. Carmen Zurbriggen
Dr. Janka Goldan
Projektmitarbeiter:innen
Philipp Schmidt
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06 / 2020 – 05 / 2024:
- Cluster 2: Strukturen, Räume und Milieus des Zusammenhalts
- C2: Milieu und soziale Ungleichheiten