Desintegration durch Moral? Moralisches Argumentieren und der Vorwurf des Moralismus in öffentlichen Debatten
FRA_F_07 – Frankfurt am Main
Zielsetzung / Fragestellung
In vielen politischen Debatten der Gegenwart ist der Vorwurf des Moralismus zentral. Das gilt etwa für Diskussionen um den Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, Genderfragen oder das in den letzten Jahren alles dominierende Thema der Migration. Überall dort, wo grundsätzliche Fragen des Selbstverständnisses, der Mitgliedschafts- und der Verteilungsregeln moderner Gesellschaften verhandelt werden, werden moralische Argumente mit dem Hinweis, sie seien fehl am Platz und wirkten desintegrativ, als „moralistisch“ zurückgewiesen. Was genau die Kritiker*innen unter Moralismus verstehen, welche Bedingungen moralisches Sprechen erfüllen muss, um als moralistisch zu gelten und welche negativen Folgen Moralismus mit sich bringe, wird dabei in der Regel nur angedeutet. Dieses Forschungsprojekt möchte in dem Kontext zwei Fragestellungen bearbeiten: Erstens soll ein begrifflicher Vorschlag erarbeitet werden, verschiedene Verwendungen des Moralismus-Vorwurfs zu unterscheiden. Drei Verwendungsweisen, die sich sowohl hinsichtlich ihrer deskriptiven Merkmale als auch ihrer normativen Bewertung unterscheiden, sollen ausgearbeitet werden: 1. Moralismus als politischer Kampfbegriff, der ausgehend von einem amoralischen Politikverständnis jegliche Form moralischen Argumentierens in politischen Fragen ablehnt; 2. Moralismus als instrumentelle, unauthentische Verwendung moralischer Argumente und 3. Moralismus als Kategorienfehler, der komplexe politische Zusammenhänge auf die Termini einer interaktionistischen Moral reduziert. Ausgehend von dieser Typologie soll in einem zweiten Schritt gefragt werden, wie diese Typen von Moralismus und Moralismus-Kritik normativ zu bewerten sind und was diese Bewertungen jeweils für die Verwendung von moralischen Argumenten, Moralismus und Moralismus-Kritik in öffentlichen Debatten bedeuten. Das Projekt verbindet somit grundlegende begriffliche Fragen der praktischen Ethik mit Anwendungsfragen, die für alle Teilnehmer*innen an öffentlichen Debatten relevant sind – sei es im Streitgespräch unter Bürger*innen, auf Social Media-Plattformen oder in institutionalisierten politischen Arenen.
Thematischer Bezug zu gesellschaftlichem Zusammenhalt
Der enge Bezug zum Thema „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ wird bereits im Projekttitel deutlich: In den letzten Jahren wird moralisches Argumentieren verstärkt als desintegrativ betrachtet, das heißt als eine Form der politischen Auseinandersetzung, die gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden könne. Davon zeugen etwa Publikationen wie „Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik“ (Stegemann 2019) oder „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“ (Grau 2017). Wer in politischen Streitfragen überwiegend moralisch argumentiere, so der Tenor dieses Genres, verlasse den Bereich sachlicher Auseinandersetzungen, in dem auf Interessensausgleich beruhende Politik überhaupt möglich sei und führe letztlich eine Spaltung der Gesellschaft und eine Polarisierung politischer Prozesse herbei. Damit greift das Projekt die Leitfrage des FGZ nach den Bedrohungen und Gefährdungen des Zusammenhalts auf und fokussiert auf die affektiven und kognitiven Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Rahmenbedingungen der politischen Kultur. Zugleich berührt das Projekt aber auch begriffliche Grundfragen nach der Bedeutung moralischer Überzeugungen für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Konnex zwischen Moral und einer Gefährdung des Zusammenhalts erscheint dabei zunächst erklärungsbedürftig: Geteilte moralische Werte und Prinzipien galten etwa den Kommunitarist*innen der 1980er und 1990er Jahre als notwendiger Kitt der Gesellschaft, der Zentrifugaltendenzen eines individualisierten Liberalismus entgegenwirken könne. Das Projekt wird einerseits dieser ambivalenten Rolle moralischer Prinzipien und Argumente für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachspüren. Andererseits geht es um die Frage, inwiefern der Zweck der Wahrung beziehungsweise Erzeugung von Zusammenhalt die Distanzierung von moralischen Argumenten rechtfertigt.
Driver, Julia 2005: Moralism, in Journal of Applied Philosophy 22:2, 137-151.
Fullinwider, Robert K. 2005: On Moralism, in: Journal of Applied Philosophy 22:2, 105-120.
Grau, Alexander 2017: Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung, München.
Jubb, Robert 2015: Playing Kant at the Court of King Arthur, in: Political Studies 63:4, 919-934.
Neuhäuser, Christian; Seidl, Christian (Hrsg.)(i. E.): Moralismus, Berlin.
Rossi, Enzo 2012: Justice, Legitimacy and (Normative) Authority for Political Realists, in: Critical Review of International Social and Political Philosophy 15:2, 149-164.
Stegemann, Bernd 2019: Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik, Berlin.
Tosi, Justin; Warmke, Brandon 2016: Moral Grandstanding, in: Philosophy & Public Affairs 44:3, 197-217.
Williams, Bernard 2005: In the Beginning was the Deed. Realism and Moralism in Political Argument, Princeton.
Dr. Cord Schmelzle
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06 / 2020 – 05 / 2024:
- Cluster 1: Theorien, Politiken und Kulturen des Zusammenhalts
- C1: Demokratie und Öffentlichkeit
- C1: Grundbegriffe, Theorien und Semantiken