Rassistischer Westen und antisemitischer Rest? Globaler Zusammenhalt im Spannungsfeld von postkolonialer Kritik und Antisemitismuskritik
D_03 – Berlin
Zwischen postkolonialer Kritik und Antisemitismuskritik besteht seit jeher ein spannungsgeladenes Verhältnis. Seit einigen Jahren allerdings scheinen sich die beiden Kritikformen zunehmend unversöhnlich gegenüberzustehen. Davon zeugen die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen über das Verhältnis zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus, die Debatten um die documenta 15 sowie die Eskalation nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und der danach einsetzenden Zerstörung des Gaza-Streifens. Mitunter werden die Konfliktlinien geopolitisch gerahmt: westliches, antisemitismussensibles Holocaustgedächtnis vs. rassismussensibles Kolonialgedächtnis im globalen Süden. In dieser Zuspitzung resoniert nicht nur eine kolonial geprägte Blockkonstellation, die der Rassismustheoretiker Stuart Hall „the west and the rest“ genannt hat, sondern es wird auch ersichtlich, dass ein gleichsam planetarer, nationalstaatliche und kontinentale Grenzen-transzendierender Zusammenhalt auf dem Prüfstand steht, wobei auch die globale Erinnerungskultur als ein nicht unwesentlicher Faktor in Rechnung zu stellen ist. Immerhin erweist sich die Erinnerungskultur als ein Konfliktfeld, auf dem um die Deutung von Vergangenheit sowie um Anerkennung und Sichtbarkeit gerungen wird. Zugleich birgt sie das Versprechen auf heilende Wirkung und Versöhnung. In diesem Sinne hängen die Bedingungen für das Gelingen oder Scheitern von globalem Zusammenhalt nicht zuletzt von der Frage nach der Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Holocaust- und Kolonialgedächtnis ab.
Von Bedeutung ist, dass sich die postkoloniale Kritik seit einigen Jahren verstärkt mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert sieht, während gleichzeitig eine Debatte über das sogenannte koloniale Unbewusste der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule als wesentlicher Referenz der Antisemitismuskritik entbrannt ist. Entsprechend gilt es, nach möglichen Leerstellen innerhalb der jeweiligen Kritikformen zu fragen, nach dem Status also des Antisemitismus im Rahmen der postkolonialen Kritik sowie nach dem Status des (kolonialen) Rassismus im Rahmen der Antisemitismuskritik. Zugleich gilt es, ressentimentale Dynamiken als möglichen Faktor zu berücksichtigen – schließlich stehen jeweils spezifische Weltdeutungen sowie die Konturierung von Selbst- und Fremdbildern zur Diskussion, geht es auch um Konkurrenzkämpfe im Hinblick auf Ressourcen. Zudem: In den letzten Jahren konnte sich die Diagnose etablieren, dass postkoloniale Kritik von einem antiwestlichen Ressentiment geprägt sei. Spiegelbildlich ließe sich fragen, ob nicht auch die Kritik an postkolonialer Kritik ressentimentale Anteile aufweist, zumal die Abwehr von postkolonialen Ansätzen und der Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Rassismus allgemein manchmal äußerst heftig und pauschalisierend ausfällt.
Das Arbeitspaket (AP) zielt darauf ab, die historische Genese der Spannung zwischen postkolonialer Kritik und Antisemitismuskritik nachzuvollziehen. Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass hier ein wechselseitiges Anerkennungsproblem wirksam ist. Es stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Kampf um epistemische Ordnungen, der sich in postkolonialen Konzepten wie „Epistemologien des Südens“, „Epistemischer Ungehorsam“ oder „Provinzialisierung Europas“ verdichtet, mit dem Faktor Aufmerksamkeit zusammenhängt. Letztlich geht es darum, nach produktiven Anschlussstellen zwischen der Erinnerung an Kolonialismus und Rassismus einerseits und Nationalsozialismus und Antisemitismus andererseits zu fragen bzw. danach, wie ein inklusives Gedächtnis beschaffen sein müsste, das demokratischen Zusammenhalt im globalen Maßstab zu stiften im Stande wäre. Dabei ist auch die besondere Verfasstheit der deutschen Erinnerungskultur zu berücksichtigen, in der Nationalsozialismus und Holocaust inzwischen eine exzeptionelle Rolle einnehmen. Der Kritik an diesem Exzeptionalismus wird häufig mit dem Vorwurf der Relativierung des Holocaust begegnet. Vor diesem Hintergrund lässt sich der deutsche Kontext als eine Art historisch bedingter Sonderfall verstehen, der aber gleichzeitig die strukturellen Komplikationen der erinnerungspolitischen Konzeption eines demokratischen Zusammenhalts in besonderer Weise zu veranschaulichen vermag.