Räumliche Unterschiede sind nicht erst seit den täglichen Berichten zu den Corona-Geschehnissen omnipräsent. Wir beobachten wie Migrationsbewegungen, demographischer Wandel, ökonomische Transformationsprozesse oder politische Präferenzen innerhalb und zwischen Regionen variieren – gesellschaftlicher Zusammenhalt ist davon nicht ausgenommen. Gleichzeitig stellt die lokale Ebene auch den Erlebnisraum für direkten Zusammenhalt und gesellschaftliche Spaltungstendenzen dar. Daher zeigte die Tagung des FGZ-Forschungsfeldes Raum und Region am 2. und 3. Dezember 2021 in mehr als 20 Vorträgen räumliche Perspektiven auf gesellschaftlichen Zusammenhalt auf, die etwa 60 Teilnehmer:innen aus Wissenschaft und Praxis diskutierten.
Zwar stand die definitorische Präzisierung des Begriffs Zusammenhalt in den Diskussionen und Vorträgen eher im Hintergrund. Es klang jedoch überwiegend ein gemeinsames Grundverständnis an, das sich durch Charakteristika wie Wechselseitigkeit, Vertrauen, Begegnungen und Sozialkapital auszeichnet und gesellschaftlichen Zusammenhalt als wünschenswertes Qualitätsmerkmal beschreibt. Dieser fände – vor allem in der westlichen Welt – in institutionalisierten wie nicht-institutionalisierten Zusammenhängen statt und bewege sich zwischen Sicherheit und Freiheit.
Die Tagung ging einerseits Fragen nach spannungsgeladenen Verhältnissen zwischen Räumen, ihren Beschaffenheiten und ihren Lebenswirklichkeiten nach. Beispiele hierfür sind Entwicklungen wie Segregationen in Großstädten oder die Einstellungsforschung im ländlichen Raum. Zum anderen wurden akteursbezogene Perspektiven, etwa zur Rolle der Zivilgesellschaft, der öffentlichen Hand in Form der Kommunen sowie der Raumordnung aufgeworfen. Im Vordergrund vieler Präsentationen stand der Blick auf kleinräumige Einheiten wie Stadtteile, Gemeinden oder Landkreise. Das wirft Fragen auf: Bildet sich gesellschaftlicher Zusammenhalt insbesondere im Lokalen heraus? Ist Zusammenhalt zumindest auf der kleinräumigen Ebene unmittelbar nachvollziehbarer?
Wer und was prägt den lokalen Raum?
Die Tagung gab diesbezüglich zwei Perspektiven. Die erste ist die der Individualebene, verbunden mit sozialen Handlungen und Interaktionen. Klassischerweise sind damit Bilder verbunden wie Stadtteile mit sozialen Konfliktpotenzialen, mit hohen Armutsquoten und geringen Bildungschancen. Damit assoziiert werden auch Aktivitäten, die Räume gestalten – durch Engagement, die Förderung von Begegnungsräumen in Stadtquartieren oder informelle Hilfen im Alltag.
Die zweite Perspektive sprach die äußeren Kontextfaktoren an, die die Rahmenbedingungen für das soziale Miteinander vorgeben. Ein klassisches Beispiel stellt die Versorgung mit sozialer und technischer Infrastruktur dar, aktuell etwa der Netzausbau zur flächendeckenden 5G-Versorgung. Gibt es vor Ort einen konkreten unerfüllten Bedarf, entstehen Nutzungsausschlüsse, die wiederum Auswirkungen auf das soziale Miteinander haben. Damit entfaltet Infrastruktur eine die Gesellschaft strukturierende Wirkung.
Wer übernimmt Verantwortung vor Ort?
Unmittelbar an die Beschreibung der Faktoren, welche den lokalen Raum konstituieren, schließt sich die Frage nach der Akteurslandschaft an. Verantwortung für die kleinräumige Einheit wurde im Verlauf der Tagung insbesondere der kommunalen Ebene sowie den hier aktiven zivilgesellschaftlichen Akteur:innen zugeschrieben. Beispielsweise übernehmen Kommunalverwaltungen die adäquate Ausstattung mit sozialen Diensten und Infrastrukturen wie z. B. die Energie- und Wasserversorgung. Über Instrumente wie das Baurecht und Quartiersmanagement wirken sie auf eine nachhaltige Gemeinde- bzw. Stadtentwicklung hin. Sie können aber auch Impulse für gesellschaftliche Entwicklungen vor Ort koordinieren und das soziale Miteinander versuchen zu steuern.
Auf der lokalräumlichen Ebene, auf der das Zusammenleben der Menschen zu verorten ist, wird demgegenüber ein besonders vielfältiges Spektrum an bürgerschaftlichen Aktivitäten und Tätigkeiten sichtbar. Damit bringen sich Bürger:innen als Form von Zivilgesellschaft vor Ort ein. Sie artikulieren dementsprechend ihre Interessen und Möglichkeiten und setzen sich für solche Angebote, Dienstleistungen und Güter ein, die für sie raumrelevant sind. Jedoch haben nicht lediglich die besagten Ausstattungen einen Einfluss auf das Zusammenleben und die Lebensqualität vor Ort. Gleichsam spiegeln sich im verknüpften bürgerschaftlichen Engagement Motive wider, die Zusammenhalt stärken können: sich aktiv für das Miteinander einzusetzen und gemeinsamen Interessen Ausdruck zu verleihen.
Die Tagung beleuchtete zudem die Relevanz übergeordneter Ebenen für die Gestaltung des lokalen Raums. Als Komplement zum Zentrale-Orte-Konzept wird das Soziale-Orte-Konzept zur Diskussion gestellt: Eine Einstufung von Orten, neben ihrer zentralörtlichen Funktion, nach ihrer Funktion für sozialen Zusammenhalt könnte eine gezielte Förderung von Orten der Begegnung, des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung ermöglichen. Auch Maßnahmen im Zuge des Postulats der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, welches auf eine ausgeglichene räumliche Entwicklung und gleichwertige Ausstattung von Infrastrukturen hinwirkt, sind als Verantwortungsübernahme höherer Ebenen für das Lokale zu verstehen.
Verantwortungsübernahme vor Ort als Praxis des Zusammenhalts?
Ausgehend von den aufgeworfenen Beobachtungen wird hier die These aufgestellt, dass Verantwortungsübernahmen im lokalen Raum als eine Praxis des Zusammenhalts gelten können. Im kleinräumigen Kontext werden die Gelegenheiten für Begegnung und Konflikt – und damit für die Aushandlung von Werten – für den Aufbau von Verständnis und Vertrauen sowie für Identifikation besonders deutlich. Dass der lokale Raum in seiner Funktion als Begegnungsraum eine kohäsive Wirkung entfalten kann, wird nicht zuletzt durch das Ausbleiben eben dieser alltäglichen Begegnungen zwischen Gesellschaftsmitgliedern in der aktuellen Corona-Pandemie offenbar. Als Konfliktraum eröffnet der lokale Raum zum Beispiel eine Plattform für demokratische Streitkultur oder die Aushandlung von Transformationserfahrungen.
Räumliche Komplexitäten weiterdenken – Erkenntnisse und Perspektiven
Im Verlauf der Tagung wurden zahlreiche Fallstudien vorgestellt, die sich zumeist auf die lokale und regionale Ebene bezogen und sowohl ländliche als auch urbane Räume untersuchten. Jedoch zeigte u. a. Vorträge zur Volksrepublik China und über Gated Communities in Polen, dass auch kulturelle Praktiken und globale Phänomene von Relevanz für die räumliche Verfasstheit und den Zusammenhalt sein können. Als Forschungsdesiderat verbleibt daher insbesondere die Weitung der Raumperspektive hin zu intra- und transregionalen Vergleichen sowie Räumen jenseits der Bundesrepublik.
Schließlich verbleibt als eine zentrale Einsicht aus der Tagung, dass mit der Kategorie „Raum“ eine konzeptionelle Vielfalt und methodologische Herausforderungen verbunden sind. Es wird deutlich, dass der interdisziplinäre Austausch zu einem mehrdimensionalen Raumverständnis führt. So entstehen theoretische Rückkopplungen und Einbettungen in andere disziplinäre Kontexte, so dass ein gemeinsamer Rahmen für die Analyse und Verständigung über Raum und Zusammenhalt entwickelt wird. Im Tagungsverlauf wurde gesellschaftlicher Zusammenhalt teils als Zustand, teils als Doing offenbar – und diese Aggregate von sozialem Miteinander sind durch Räume bedingt. Eine vielversprechende und wohl produktive Ausgangsbasis für die zukünftigen interdisziplinären Forschungen des FGZ.