„Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“ - Zur Historizität der Suche und Sehnsucht nach Zusammenhalt
Tagung
1925 wurde in Leipzig das „Institut für Soziologie“ unter der Leitung von Hans Freyer eingerichtet. Es war der erste Lehrstuhl im deutschsprachigen Gebiet, der ausschließlich diesem Fach gewidmet war. Die Gründung steht für die Institutionalisierung einer seinerzeit noch jungen Disziplin, die den Zusammenhalt von sozialen Ordnungen befragte. Zwar hatte diese Disziplin sich als Wissenschaft des Sozialen schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausgebildet. Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg und infolge der Erfahrung des Zusammenbruchs politischer und sozialer Gewissheiten etablierte sie sich als Fachdisziplin nunmehr mit der Bezeichnung „Soziologie“. Wenngleich ihre Gestalt, ihre Funktion und ihre Methoden in der Institutionalisierungsphase noch unter den Vertretern der Disziplin selbst umkämpft waren, blieb ihr von Anbeginn ein Grundzug wesentlich, nämlich die Vorstellung von Einheit und (sozialer, politischer und/oder ethnischer) Homogenität als Gegenentwurf zum vermeintlichen Zerfall, Zusammenbruch und zur Zerklüftung der Sozialstruktur. Diesem Ansatz lag wiederum die Ansicht von der sozialen Heterogenität als Fragmentierung zugrunde, während Einheit meist als eine mehr oder weniger homogene Konformität verstanden wurde. Entsprechend fehlte der frühen Soziologie die Vorstellungskraft, soziale Ordnungen als zugleich einheitlich als auch vielfältig, als integriert wie auch pluralistisch zu begreifen. Sie war von einer Suche nach Zusammenhalt bestimmt, für die sie entsprechende Begriffe und Konzepte wie etwa „Volk“, „Gesellschaft“ oder „Gemeinschaft“ prägte.
Ausgehend von der historischen Bedeutung, die der Ort Leipzig in der Wissenschaftsgeschichte der Soziologie einnimmt, möchten sich das Teilprojekt des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt selbstreflexiv aus einer historischen Perspektive jenen methodologischen Ansätzen sowie den sich darin eingeschriebenen Begriffen, Denkfiguren und Metaphern widmen, in denen die Frage nach dem Zusammenhalt verhandelt wurde. Dabei argumentieren wir, dass sich im 20. Jahrhundert die Suche nach „Zusammenhalt“ als Gegenkonzept zu dem Bestreben herausgebildet hat, Zusammenbruch respektive Unordnung zu vermeiden bzw. zu verhindern.
Einhundert Jahre später hat die Befragung von „Zusammenhalt“ zum Zweck ihrer Bewahrung respektive Neukonfigurierung nichts an Dringlichkeit eingebüßt: Immer noch bemühen wir uns um Analysen von bestehenden diskursiven Polarisierungen, von wirtschaftlichen und politischen Ungleichheiten sowie von sozialen Fragmentierungen. Nicht selten (und sicherlich auch nicht immer zu Unrecht) werden dabei soziale Zerklüftungen und gesellschaftliche Friktionen als Krise oder – gerade im heutigen Diskurs – vor allem als Bedrohung der demokratischen Ordnung wahrgenommen.
Ausgehend von der Annahme, dass die Suche nach Zusammenhalt ein konstruiertes Gegenkonzept zu Unordnung und Zusammenbruch darstellt, widmet sich die Tagung dem Zusammenhang von intellektueller, akademischer und empirischer Krisendiagnostik einerseits und der ihr folgenden politischen Suche nach – durchaus auch differierenden Imaginationen von – Zusammenhalt andererseits gefragt werden. Von Interesse sind dabei jene intellektuellen, wissenschaftlichen und empirischen Analysen und Deutungen von sozialen Ordnungen, die deren Zerfall, Zerklüftung und Zerwürfnis diagnostizieren und damit eine Gefährdung des – wie auch immer imaginierten – Zusammenhalts prognostizieren.
Programm
Dienstag, 12. März
13:00 - 13:30 Uhr
Begrüßung
Matthias Middell, Sprecher des FGZ-Standorts Leipzig
Dirk van Laak, Projektleiter „Kohäsion in der Krise. Empirische und intellektuelle Diagnosen eines prekären gesellschaftlichen Zusammenhalts in Europa seit 1945“
Zarin Aschrafi, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im o. g. Teilvorhaben
13:30 - 15:00 Uhr
Panel 1 | Nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung, 1918
Begriffe des Zusammenhalts
Inka Sauter, Frankfurt: Neue alte Begriffe. Über „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies
Carola Dietze, Jena: Liebe und Distanz. Die Grenzen des gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalts in Helmut Plessners Sozialphilosophie
Panelleitung: Barbara Lüthi
15:00 - 15:30 Uhr
Kaffeepause
15:30 - 17:00 Uhr
Panel 2 | Nach der Katastrophe, 1945
Semantiken des Zusammenhalts
Michael Becker, Frankfurt: Ein moderner Mandarin? Nationale Kontinuität, gesellschaftliche Kohäsion und die Rolle der Intellektuellen bei Helmut Schelsky
Ralph Jessen, Köln: „Wenn wir brüderlich uns einen, schlagen wir des Volkes Feind." Einheitspathos, Klassenkampf und Volksmythos in der politischen Rhetorik der frühen DDR
Panelleitung: Matthias Middell
17:15 Uhr
Abendvortrag | Keynote Lecture
Jerry Z. Muller, Washington: Community, Identity, and the State: Hans Freyer from Radical Conservatism to Resigned Conservatism
Moderation: Dirk van Laak
ab 18:30 Uhr
Gemeinsames Abendessen
Mittwoch, 13. März
9:00 - 10:30 Uhr
Panel 3 | Nach dem Boom, 1973
Kategorien des Zusammenhalts
Ariane Leendertz, München: Zusammenhaltsbeschwörungen in Zeiten der Polykrise. Die USA zum Ende der 1970er Jahre
Almuth Ebke, Mannheim: Society, community, identity. New Labour zwischen soziologischem Angebot und politischer Herausforderung
Panelleitung: Axel Körner
11:00 - 12:30 Uhr
Panel 4 | Nach dem „Ende der Geschichte”, 1989/90
Figuren und Figurationen des Zusammenhalts
Martin Deuerlein, Tübingen: „Indigene Völker“ Die Konstruktion einer transnationalen Gemeinschaft in der „Weltgesellschaft“
Jasper Trautsch, Bonn: Die Figur des „Westens“ als Integrationsideologem und Kampfbegriff in der jüngsten Zeitgeschichte
Panelleitung: Jürgen Dinkel
12:30 - 13:30 Uhr
Mittagessen
13:30 - 15:00 Uhr
Panel 5 | Zur Soziologie der Gegenwart
„Gesellschaftlichen Zusammenhalt” bestimmen, analysieren, denken
Ute Volkmann, Bremen: Soziologische Zeitdiagnosen und die Krise gesellschaftlichen Zusammenhalts: das Genre und seine Argumentationsfiguren
Uwe Schimank, Bremen: Verbündeter – Schlichter – Abklärer: Soziologische Positionierungen zu gesellschaftlicher Polarisierung
Panelleitung: Holger Lengfeld
15:00 - 15:15 Uhr
Ende der Tagung
Die Teilnahme ist kostenfrei und nach vorheriger Anmeldung bis zum 1. März möglich. FGZ-Mitarbeiter:innen können sich für eine Teilnahme über Zoom anmelden.
Anmeldung per Mail an: fgz-leipzig@uni-leipzig.de